Foto: Keystone

Kokain und Sucht
Sie kämpfte bis zuletzt an Benedicts Seite

Kokain ist bei den Jungen beliebt. Wenige wissen: Kokain tötet. Das zeigt ein neues Buch. Die Autorin Marina Jung hat ihren Sohn an die Droge verloren. Im Gespräch mit SonntagsBlick erzählt die Zugerin, was Kokain bei ihm und den Eltern angerichtet hat.
Publiziert: 12.04.2025 um 15:32 Uhr
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Aktualisiert: 12.04.2025 um 21:57 Uhr
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Marina Jung hat ihren Sohn 2020 an Kokain verloren. Er war suchtkrank.
Foto: Thomas Meier

Darum gehts

  • Der Kokainkonsum in der Schweiz ist stark gestiegen
  • Jeder fünfte Konsumierende wird abhängig
  • Eine Zugerin hat ein Buch über die Abhängigkeitserkrankung ihres Sohnes geschrieben
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Rebecca WyssRedaktorin Gesellschaft

In Marina Jungs (65) Schrank liegt eine goldene Schachtel. Selten wagt sie, sie hervorzuholen. Tut sie es, klopft ihr Herz wie wild. Obwohl sie weiss, was sich darin befindet. Ein Schächtelchen mit Minijasskarten. Eine abgegriffene Plüschkatze. Eine Militärcap. Ein UBS-Stick mit Fotos. Abgebrannte Kerzen. Ein Stehaufmännchen. Ein Buch. Eine Dose mit Milchzähnen. Manchmal riecht sie an den Zähnen. Sie sind geruchlos. Doch sie weiss noch, wie er gerochen hat. Benedict. Ihr Sohn, der nur 26 Jahre alt wurde.

Benedict ist am 5. November 2020 gestorben. Kokain hat ihm das Leben genommen. Und seinen Eltern den Sohn. Nun, an einem Märztag, fährt Marina Jung an den Zugersee. Sie stapft durch die sandige Bucht, vor ihr tut sich eine Weite auf, mit See, Pilatus und Rigi. Sie atmet einmal tief durch und fährt mit dem Finger in der Luft die Uferlinie entlang. Hier ist sie nach seinem Tod entlanggelaufen. Immer wieder. An diesem Ort, wo das Wasser in der Sonne glitzert, hielt sie es aus. Sie sagt: «Hier fühlte ich mich dem Himmel am nächsten.»

Marina Jung will nicht über sich sprechen. Nicht mit einer Journalistin. Doch sie sagt: «Benedict hat eine Botschaft.» Sucht ist ein Tabu. Erkrankt jemand in der Familie daran, schweigen Angehörige. Aus Scham. Auch Marina Jung ging es so. Dagegen will sie nun etwas tun. Sie hat das Buch «Kokainjahre» geschrieben, das kommende Woche erscheint. Es handelt vom Kampf des Sohns und der Eltern gegen die Suchterkrankung. Marina Jung klärt auf, über Kokain, über Sucht, darüber, was Angehörige tun können. Gut recherchierte Fakten und Zahlen gepaart mit einer Suchtgeschichte, die so ungeschminkt und berührend erzählt ist, dass es einem den Atem verschlägt.

Marina Jung litt mit ihrem suchtkranken Sohn mit.
Foto: Thomas Meier

Marina Jung will, dass man versteht. So wie sie nach Benedicts Tod dessen Erkrankung verstehen wollte. Heute ist sie eine Expertin dafür. Mit ihrem Mann hat sie eine Stiftung gegründet, die im Bereich Abhängigkeitserkrankungen tätig ist. Damals wusste sie wenig. Sie sitzt auf einem Bänkli in der Bucht und sagt: «Wir bemerkten lange nichts.»

Der erste Schock

Bis sich Benedict veränderte, 2017. Er kam morgens manchmal kaum aus dem Bett, war in sich gekehrt, reagierte schnell gereizt und kalt. «Untypisch war das», sagt sie. «Benedict konnte sonst gut über seine Gefühle sprechen.» Doch jetzt blockte er ab, wenn die Eltern fragten, wie es ihm geht. Bis zu jenem Tag, als er zu ihnen kam und sich anvertraute: «Ich habe ein Problem.» Benedict war 23, hatte eine Freundin, war im Studium zum Primarlehrer. Es lief gut in seinem Leben. Und nun Kokain. Marina Jung sagt: «Wir waren schockiert.» Die Eltern katastrophisierten, sahen Benedict schon auf der Gasse leben und relativierten gleichzeitig: «Nein, so schlimm kann es nicht sein.» Hoffen und bangen. Auf und ab. Das bestimmte ab da mehr und mehr ihr Leben.

Kokain ist beliebt. Abwasseranalysen aus den Schweizer Städten zeigen: Innerhalb von zehn Jahren hat sich dessen Konsum verdoppelt. Kokain ist überall, in allen Schichten angekommen. Auch bei den Jungen. Eine aktuelle Studie der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich kommt zum Schluss: Rund ein Viertel der untersuchten 24-Jährigen in Zürich hat das weisse Pulver in den Monaten vor der Haarprobe konsumiert. Kokain gilt als cool, putscht auf, macht selbstbewusst – oder vielmehr: überheblich. Was kaum jemand sagt: Kokain macht auch rasend schnell abhängig. Der Kick fühlt sich laut Studien so intensiv an wie sechs Orgasmen, ist aber extrem kurz. Die Folge ist ein enormes Tief. Das weckt die Gier, wie ein unersättliches Tier, das immer mehr will. Jeder fünfte Konsumierende wird abhängig.

Mit Neugier fing es an

Benedict rauchte nicht, mochte kein Cannabis, trank nicht mehr Alkohol als andere. Doch 2016 probierte er Kokain. In einer Bar war das, spontan. Ein Fremder schnupfte in der Toilette eine Linie und bot es ihm an. Er war neugierig, griff zu. Das weisse Pulver ging ihm fortan nicht mehr aus dem Kopf. Er schnupfte wieder, schnupfte immer öfter, irgendwann kam er ohne zu schnupfen nicht mehr durch den Tag. Später rauchte er das gefährliche Kokaingemisch Freebase, mit dem das Herzinfarkts- und Hirnschlagrisiko in die Höhe spickt.

Mit einem spontanen Versuch fing es bei Benedict an.
Foto: Getty Images

Nach Benedicts Tod fanden die Eltern sein Notizbuch. Eine Art Tagebuch über seine Suchterkrankung. Wie sich Kokainsucht anfühlt, beschreibt er, als sie schon fortgeschritten ist: «Mein Magen schmerzt, mir ist kotzübel, ich schwitze. Doch das Schlimmste ist das Verlangen, das Verlangen im Kopf, im Gehirn. Nur ein Gedanke. Immer wieder. Doch eigentlich will ich dies nicht. Ich will nicht mehr konsumieren.»

Der Suchtdruck. Er macht es so schwierig, clean zu werden. Mit Charakterschwäche, mit fehlendem Willen hat Sucht nichts zu tun. Viele wissen das nicht. Haben Vorurteile. Auch Marina Jung war nicht frei davon. Jetzt weiss sie: «Sucht ist eine Krankheit.» Ihre Entstehung sei komplex. Eine Ursache liege im Hirn, erklärt sie. Kokain verändert die neuronalen Strukturen, diese verfestigen sich. Das unbändige Verlangen – auch: Craving – kann chronisch werden. Wer rauskommen will, kann nicht einmal auf ein Substitut hoffen, das die Entzugserscheinungen lindert. Es gibt keines.

Die Rückfälle machten alles kaputt

Schaut Marina Jung heute Fotos von ihrem Sohn aus dem Jahr 2018 an, erschrickt sie: Abgemagert ist Benedict, seine Augen sind leer. Ab jenem Jahr rutschte er tiefer in die Sucht. Sie sagt: «Die Sorgen erdrückten uns fast.» Die Eltern führten Gespräche, setzten sich mit ihm an den Tisch, an dem sie früher ihre Familienessen zelebriert hatten, wo er ihnen so oft seinen selbst gekochten Tomatenrisotto serviert hatte. Sie redeten ihm ins Gewissen: «Begreife doch, wenn du nicht aufhörst, verlierst du deine Beziehung, deine Ausbildung, alles.» Das wollte er nicht. Auf keinen Fall. Er wollte aufhören. Benedict ging in Therapie. Eine Odyssee begann. Zwei Jahre, sieben Aufenthalte in Kliniken und Suchtfachinstitutionen. Das Verhängnis: die Rückfälle. Sie rissen ihn nach jeder cleanen Phase wieder in den Abgrund.

Abhängiger als Kokain zu schnupfen, macht es, dies zu rauchen. Hier Freebase.
Foto: Linda Käsbohrer

Marina Jung erinnert sich im Buch an einen solchen. Benedict lebte mittlerweile in einer WG und hatte dort konsumiert. Sie hatte ihn abgeholt. Nun sass er am Esstisch, fahl, schweissgebadet, seine Haare sahen aus, als wäre er gerade aus der Dusche gestiegen. Er konnte kaum sprechen. Vom Joghurt, das ihm die Eltern hinstellten, schaffte er nur einen Löffel. Er müsse erst vom Trip herunterkommen, sagte er ihnen. Mit Alkohol. Er nahm eine Flasche Wodka aus seinem Rucksack, mischte ihn mit Orangensaft und trank. Marina Jung und ihr Mann schauten sich entsetzt an – und wurden traurig. «Wo waren wir gelandet?»

Sie waren hilflos

Hatten sie eine Wahl? Welche Wahl haben Eltern von suchtkranken Kindern überhaupt? Psychologen raten: Loslassen. Nicht mehr helfen. Wer Marina Jungs Buch liest, versteht, wie schwer das ist – eigentlich unmöglich.

Auch die Eltern waren der Suchterkrankung ausgeliefert. Sie waren für ihren Sohn da. Versuchten, ihn zu retten. Dann überkam sie wieder Verzweiflung. Manchmal flippte Marina Jung aus, weinte, verachtete Benedict, wenn er konsumiert hatte. Die Eltern waren hilflos. Das zeigt sich in der Szene im Buch, in der sie in Benedicts Schrank heimlich nach Stoff suchen und durch Backpulver ersetzen. Sie werden nie wissen, ob er es gemerkt hat.

Auf dem Bänkli am Zugersee sagt sie: «Heute wissen wir: Kontrolle bringt nichts.» Kontrolle schafft Misstrauen. Doch das war ihnen damals nicht klar. Niemand erklärte den Eltern, wie man mit einer schweren Suchterkrankung in der Familie umgehen kann. «Mit dem Wissen von heute hätten wir manches anders gemacht.» Sie sagt es mit grossem Bedauern. Genauso wie: «Wir haben Fehler gemacht.» Zum Beispiel den Konsum verteufelt. Jeder Rückfall stürzte die Eltern in eine Krise. Das war kontraproduktiv. Sie hätten die Phasen der Abstinenz würdigen sollen, sagt Marina Jung. «Diese Haltung der Eltern ist zentral, um Druck rauszunehmen.»

Am Zugersee fühlt Marina Jung sich dem Himmel nahe.
Foto: Thomas Meier

Die Scham war gross

Dann nimmt sie ihr Telefon hervor, zeigt ein Foto von Benedict, als er noch der Alte war. Volles dunkelbraunes Haar, dunkle Augen. Ein schöner Junge. Sie betrachtet das Bild, lächelt. Überhaupt sieht man während des Gesprächs nie eine Träne. Sie ist gefasst. Sie hat das Schlimmste erlebt, das einer Mutter passieren kann. Nichts kann ihr noch etwas anhaben. Sie sagt: «Als ich das Buchmanuskript geschrieben hatte und durchlas, dachte ich: Wie kann man als Eltern so etwas überleben?»

Die Not der Familie – niemand kannte sie. Marina Jung schwieg lange. Selbst gegenüber der Verwandtschaft. Und als das Buch fertig war, lag der Vertrag des Verlags monatelang auf ihrem Tisch, sie schaffte es nicht, ihn zu unterschreiben. Weshalb? «Scham.» Sie schüttelt ungläubig den Kopf, als sie das sagt. «Wenn er Krebs gehabt hätte, hätten wir es doch auch sagen können.» Dieses Tabu soll aufhören. Deshalb verzichtet sie auf ein Pseudonym.

Eine Frage bleibt am Ende offen. Was genau war bei Benedict die Todesursache? «Kokain», sagt sie sofort. «Am Ende ist es egal, was genau es war, es war das Kokain.»

Marina Jung, «Kokainjahre», Rüffer & Rub, 30 Franken. 

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