Milena Moser über Thanksgiving
Ich sage Danke

Die letzte Kolumne im November widme ich jedes Jahr der Dankbarkeit. In manchen Jahren ist das einfacher als in anderen.
Kommentieren
1/5
Die letzte Kolumne des Novembers widmet Milena Moser jeweils dem amerikanischen Fest Thanksgiving.
Foto: Getty Images

Darum gehts

  • Milena Moser schreibt jedes Jahr eine Kolumne zu Thanksgiving
  • Das Fest bleibt ihr grösstenteils fremd, aber den Gedanken der Dankbarkeit mag sie
  • Besonders dankbar ist Moser für ihre Familie
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
Selfie 2.jpg
Milena MoserSchriftstellerin

Das amerikanische Thanksgivingfest ist mir in all den Jahren immer etwas fremd geblieben. Vielleicht, weil ich nicht damit aufgewachsen bin. Vielleicht, weil mir der historische Hintergrund zweifelhaft erscheint: Schliesslich wissen wir, wie die Pioniere den Ureinwohnern, die sie durch den ersten Winter fütterten, ihre Grosszügigkeit gedankt haben.

Ich mag auch den gebratenen Truthahn nicht besonders. Trotzdem feiern wir mindestens zwei-, manchmal dreimal. Victor kann keine Einladung zum Essen ausschlagen, und so fahren wir jedes Jahr kreuz und quer durch die Stadt, essen uns durch die unterschiedlichsten Buffets und nehmen auch alle angebotenen Reste mit nach Hause. Ich sage nichts, denn ich habe im Gegensatz zu Victor nie Hunger gelitten. Das hinterlässt unauslöschliche Spuren, da kann unser Kühlschrank noch so voll sein. «Man kann nie wissen», sagt er. Und natürlich hat er recht. Die letzten Jahre haben es bewiesen.

Was ich an Thanksgiving aber liebe, ist die Sitte, reihum einen Grund, dankbar zu sein, zu nennen. Das geht vom banalen «für dieses tolle Essen» bis zu tief empfundenen Einsichten. Als ich das zum ersten Mal miterlebte, war mir das eher peinlich. Je näher die Reihe an mich kam, desto nervöser wurde ich. Die Angst, etwas Falsches zu sagen oder mich lächerlich zu machen, sass damals noch tief (seither habe ich sie abgelegt). Doch als ich mich auf die Aussagen der anderen Gäste am Tisch konzentrierte, öffnete sich etwas in mir. Meine Gefühlslage veränderte sich spürbar, als ich anfing, nach eigenen Gründen für Dankbarkeit zu suchen, und zwar noch bevor ich etwas Konkretes gefunden hatte.

Das ist lange her. Unterdessen ist die stimmungserhellende Wirkung der Dankbarkeit wissenschaftlich untersucht und belegt, sie wird in Büchern und Podcasts und Arztpraxen empfohlen. Und ist auch für mich zum täglichen Ritual geworden. Bevor ich einschlafe, lege ich eine Liste der Dinge an, für die ich dankbar bin. Und egal, wie widerwärtig der Tag war, etwas findet sich immer. Manchmal nur etwas Kleines, wie das Lächeln des Wachmanns, der am Eingang zur Notaufnahme meine Tasche durchsuchte und mir dann viel Glück wünschte. Es gibt keinen Tag, an dem gar nichts gut ist. Das habe ich von Victor gelernt.

Dieses Jahr war so ein Tag. Ein sehr langer solcher Tag. Und doch bin ich dankbar. Dankbar für die Erfahrungen, die ich sammle, auch wenn ich sie nicht gesucht habe. Dankbar für die Gelegenheit, meine Grenzen zu testen. Dankbar für die Erkenntnis, wie behütet und verwöhnt ich bisher gelebt habe, und dass ich trotzdem etwas aushalten kann.

Und gerade da bin ich Victor unendlich dankbar: dafür, dass er in mein Leben getreten ist und es so viel grösser und heller gemacht hat. Dass er mir hilft, das Schöne zu sehen, einen Grund zum Lachen zu finden, zum Feiern.

Ich bin dankbar für meine Familie, für die herzsprengende Freude, mit der sie sich verändert und vergrössert. Dankbar für all die bisher ungekannten und überwältigenden Gefühle, die meine Enkel in mir wecken – ich brauche die Mehrzahl, auch wenn das zweite noch nicht geboren ist. Dankbar für die Familie, bei der ich nicht nur wohnen darf, sondern zu Hause bin, die nicht meine ist, aber sich wie meine anfühlt. Dankbar für das Netz, das mich hält, für meine Freundinnen auf zwei Kontinenten, die mir in diesen unbeständigen Zeiten Sicherheit vermitteln. Ich bin nicht allein. Das ist der grösste Reichtum, das wertvollste Privileg überhaupt.

Ich habe mehr Glück, als einem einzelnen Menschen zusteht. Und ich sage Danke.

Danke.

Was sagst du dazu?
Heiss diskutiert
    Meistgelesen