Milena Moser über das Heimweh-Phänomen
Die Schweizerkrankheit

So nannte man früher das Heimweh: die Schweizerkrankheit. Weil wir offenbar besonders heftig darunter leiden. Aber das meine ich nicht. Nicht nur.
Publiziert: 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 01.11.2025 um 22:46 Uhr
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Die Alpen stehen still und rufen Erinnerungen an Heimat und Sehnsucht wach.
Foto: Getty Images

Darum gehts

  • Schweizerkrankheit: Autorin wird bei Schweiz-Besuchen regelmässig krank
  • Adrenalinschub vor Auftritten hilft, Krankheitssymptome vorübergehend zu überwinden
  • Heimweh wurde im 17. Jahrhundert bei Schweizer Söldnern diagnostiziert
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Milena MoserSchriftstellerin

Jedes Mal, wenn ich in die Schweiz komme, werde ich krank. Jedes Mal. Meine Freundinnen machen schon Witze darüber, schicken prophylaktische Gesundheitstipps und das Immunsystem stärkende Rezepte. «Diesmal wirst du aber nicht krank», werde ich in der Schweiz begrüsst. «Absolut nicht», verspreche ich und glaube es auch.

Und dann ... liege ich doch wieder flach. Oder so flach, wie eine selbständig erwerbende und von Auftritten lebende Frau eben liegen kann. Es ist ein interessantes Phänomen, das viele kennen: Der leichte Adrenalineinschuss vor einem Auftritt, der sich im ungünstigsten Fall als Lampenfieber zeigt und eine Qual sein kann, ist bei Krankheit ein Segen. Zuverlässig fegt er jedes Unwohlsein weg. Auch wenn ich auf dem Weg durch den Bahnhof zu meinem Abfahrtsgleis noch mindestens zwei Verschnaufpausen einlegen musste, auch wenn ich mich kurz vor Beginn der Veranstaltung noch wahllos durch meine Reiseapotheke schluckte – im Moment, in dem der sprichwörtliche Vorhang sich hebt, reagiere ich wie ein altes Zirkuspferd auf die Musik. Ich funktioniere nicht nur, ich geniesse es. Auf den Bildern später ist nichts vom Fieber zu sehen, und selbst wenn die Stimme kratzte, störte das niemanden. Der Heimweg ist dann wieder ein anderes Kapitel, und am nächsten Tag läuft gar nichts mehr. Muss dann aber auch nicht. Ein Luxus, nichts zu müssen. Ein Geschenk, nicht zu funktionieren. Vielleicht gehört das für mich zum Zu-Hause-in-der-Schweiz-Sein einfach dazu?

Heimweh ist eine Form von Liebeskummer

Die Schweizerkrankheit, also Heimweh, wurde Ende des 17. Jahrhunderts bei Schweizer Söldnern diagnostiziert, die auf gewisse Lieder aus ihrer Heimat mit so heftiger Schwermut reagierten, dass manche sie nicht überlebten. Andere desertierten. Es führte so weit, dass das Singen dieser bestimmten Lieder bei Todesstrafe verboten wurde. Aber Heimweh ist eine Form von Liebeskummer und stärker als Verbote. Oder Vernunft.

Das Heimweh selbst ist auch eine alte Freundin, eine ständige Begleiterin. Wer an zwei Orten zu Hause ist, vermisst immer etwas. Das ist aber nicht schlimm. Im Gegenteil: Es ist ein Privileg, jemanden zu vermissen. Wer vermisst, liebt. Oder hat einmal geliebt. Das ist nicht selbstverständlich, das ist ein Geschenk.

Die Liebe steckt auch hinter meiner Schweizerkrankheit, vermutet eine Freundin: «Du kannst ja auch nur hier so richtig krank sein», sagt sie. «Weit weg von Victor und der Sorge, ihn anzustecken.» Das stimmt natürlich. Als Transplantierter muss Victor Medikamente nehmen, die sein Immunsystem künstlich unterdrücken. Jeder Infekt kann für ihn gefährlich werden. Also werde ich nicht krank. So wie meine Mutter nie krank wurde, als wir klein waren. Sie hielt sich damals an die Regel, dass wir einen ganzen Tag fieberfrei zu Hause sein mussten, bevor wir wieder in die Schule «durften», eine Regel, die ich gern ausnutzte. Ich lag im verdunkelten Zimmer, das Sonnenlicht fiel schräg durch die Ritzen im heruntergelassenen Rollladen, Staubflocken tanzten. Draussen spielten Kinder, ich hörte ihre Stimmen wie fernes Meeresrauschen, ich schlief ein, und wenn ich aufwachte, war es dunkel. So vergingen die Tage.

Die Schweizer Söldner, an dünne Bergluft gewöhnt, vertrugen den höheren Luftdruck im Flachland nicht, vermuteten die Ärzte damals. Vielleicht ist es bei mir umgekehrt, seit ich auf Meereshöhe lebe. Aber es ist eigentlich auch egal. Gschäch nüüt Schlimmers, als ein paar Tage in einem verdunkelten Zimmer zu liegen und nicht zu wissen, ob es Tag ist oder Nacht. Der Tee auf dem Nachttisch wird kalt, die Zeit verliert sich in wirren Träumen.

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