Was ohnehin schon eine massive Einschränkung bedeutet, ist während einer Epidemie wie dieser eine mittlere Katastrophe. Victor gehört gleich mehreren Risikogruppen an: weil er als Transplantierter kein Immunsystem hat und weil er von den letzten beiden Herzoperationen zusätzlich geschwächt ist. Fast bin ich froh, dass ihn die neuesten Komplikationen mehr oder weniger ans Bett fesseln. Denn grundsätzlich lässt er sich von seinen Medikamenten nicht am Leben hindern. Er schottet sich nicht ab, er weigert sich, in ständiger Angst zu leben. Schliesslich hat ihm der Transplantationschirurg mit dem schönen Namen Doktor Gluck damals versprochen: «Wir schenken Ihnen kein neues Leben, damit Sie es nicht leben können!» Leben heisst arbeiten, austauschen, essen, feiern, zusammen sein. Leben findet an langen Tischen statt, in der Werkstatt und in der Galerie, vor allem aber: mit anderen Menschen.
Was nicht heisst, dass Victor nicht vorsichtig ist. Was nicht heisst, dass er sich nicht schützt.
Doch wenn in der Galerie alle husten, dann landet er mit einer Lungenentzündung im Spital. Oder mit einer Lebensmittelvergiftung, wenn sich der Koch in der Taqueria die Hände nicht gewaschen hat. Was das Coronavirus mit ihm anrichten würde, darf ich mir gar nicht erst vorstellen. Und dass er ausgerechnet jetzt so viel Zeit im Krankenhaus verbringt, treibt mich schier zur Verzweiflung. Denn Hygiene wird in amerikanischen Krankenhäusern erstaunlicherweise nicht gerade grossgeschrieben. Das Pflegepersonal trägt seine farbenfrohen Uniformen schon auf dem Arbeitsweg in den öffentlichen Verkehrsmitteln. «Ich bin nun mal stolz auf meinen Beruf», erklärte man mir. Blutige Verbände, verschmutzte Laken und andere Unappetitlichkeiten bleiben oft stundenlang auf dem Boden liegen, weil das Putzpersonal einer anderen Abteilung angehört als die Pflege. «Wir dürfen das nicht wegmachen!» Angehörige dürfen das theoretisch auch nicht, aber da ist die Schweizer Hausfrau in mir dann doch stärker.
Am schlimmsten aber ist es in der Notaufnahme. Und natürlich landen wir ausgerechnet da, ausgerechnet jetzt. Ich denke an all die gut gemeinten, aber weltfremden Ratschläge, die mich in den letzten Wochen erreicht haben, und seufze laut. Dass ich im Leben herzlich wenig kontrollieren kann, habe ich langsam auch kapiert. Ich muss nicht ständig mit der Nase drauf gestossen werden.
Ein Triage-Pfleger nimmt Victors Personalien auf. Die Standardfrage, ob er kürzlich in China war, wird schon gar nicht mehr gestellt. Dafür: «Hatten Sie in den letzten Wochen Kontakt mit kranken Menschen?»
Wir wechseln einen fassungslosen Blick. Victor antwortet so lange nicht, dass der Pfleger vom Computerbildschirm aufschaut. Sein Blick schweift in den überfüllten Wartesaal, über die hustende, schniefende, spuckende, jammernde, fluchende Ansammlung von Menschen. Die alle lieber woanders wären. Irgendwo anders als hier.
«Tja», sagt er nur. Und dann müssen wir alle drei lachen, und dann können wir gar nicht mehr aufhören.
«Wenn Sie lachen können, ohne zu husten, sind Sie okay.»