Milena Moser und die einfache Frage
Wie läuft dein Tag heute?

Eine ganz einfache Frage, die angespannte Situationen sofort entschärft. Auch das habe ich von Victor gelernt.
Publiziert: 09:00 Uhr
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Aktualisiert: 08:30 Uhr
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Bei einem seiner vielen Aufenthalte fragt Mosers Mann Victor eine Krankenschwester nach ihrem Tag. Diese Frage stellt er oft in angespannten Situationen.
Foto: Getty Images

Darum gehts

  • Milena Mosers Mann fragt oft nach dem Tag anderer Menschen
  • Häufig entspannen sich dadurch angespannte Situationen
  • Im Krankenhaus kommt es so zu einer überraschenden Verbindung
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Milena MoserSchriftstellerin

Es ist zum Glück schon wieder ein paar Wochen her, dass Victor zuletzt im Krankenhaus war, und es geht ihm sehr viel besser. Wie immer lerne ich in diesen unschönen Momenten am meisten. Es ist einfach, freundlich zu sein, wenn alles rundläuft. Was in der Notaufnahme nun mal selten der Fall ist.

Das amerikanische Gesundheitswesen spottet jeder Beschreibung, aber das liegt nicht an den Menschen, die darin arbeiten. Ganz im Gegenteil. Sie geben ihr Bestes unter eigentlich unmöglichen Bedingungen, sind immer drastischeren Budget- und Personalkürzungen unterworfen und müssen ausserdem die geballte Frustration der Patienten und Angehörigen auffangen. Auch ich neige in diesen Situationen dazu, in einen Strudel schwarzer Gedanken zu versinken. Mich innerlich, und manchmal auch lautstark aufzuregen: Warum können die nicht mal ... Warum passiert das nicht ... Das ist doch das Letzte ... und so weiter. Was natürlich niemandem hilft, schon gar nicht Victor.

Wenn er in der Lage ist zu reden, sagt er zu jeder Person, die in seine Nähe kommt: «Und, wie läuft ihr Tag heute?» Eine einfache Frage, die die Stimmung sofort verändert. Immer entwickelt sich ein kurzes, manchmal auch ein längeres Gespräch, es entsteht eine Verbindung, wo vorher keine war. Unterdessen kenne ich ihn gut genug, um zu erkennen, dass das eine bewusste Entscheidung ist. Eine Art Disziplin.

«Ich tu das auch für mich», sagt er. «Es lenkt mich von meinen Schmerzen ab.»

Für mich tut es noch mehr: Es führt mich in die Gemeinschaft zurück. Ich spüre wieder, dass ich nicht allein auf der Welt mit meinen Sorgen kämpfe, sondern dass wir alle im sprichwörtlichen selben Boot sitzen. Und es führt manchmal zu erstaunlichen Begegnungen.

«Oh, ganz prima, ich hab gestern geheiratet», antwortete zum Beispiel eine gut gelaunte junge Pflegefachfrau bei seinem letzten Aufenthalt auf Victors Frage. Sofort richteten wir uns gespannt auf, wir sind ja unverbesserliche Romantiker, beide. Die junge Frau erzählte von der Ziviltrauung in der City Hall, wo wir auch geheiratet hatten, und erklärte uns, warum sie noch nicht auf Hochzeitsreise sei. Und dann fragte sie, wo wir denn herkämen – eine Frage, die wir heute weniger gern beantworten als, sagen wir, vor einem Jahr. Aber ihre Augen leuchteten sofort auf: «Das glaub ich ja gar nicht! Ein Mexikaner und eine Schweizerin! Das ist ja wie bei meinen Eltern!»

Stellte sich heraus, ihr Vater war Schweizer mit Wurzeln in Spiez, einer Ortschaft, die sie schon besucht hatte. Sie erzählte vom Thunersee und vom Brienzer Rothorn, und ich konnte es nicht lassen, ihre Aussprache zu korrigieren. Wir lachten, und beinahe hätte ich vergessen, wo wir uns befanden. Und warum. Dann klingelte es von einem anderen Bett, und sie musste weiter. Doch bevor sie ging, erwähnte sie noch die Taqueria, die ihre Eltern in Portland, Oregon, geführt hatten, und die für ihre Fischtacos berühmt war.

Portland?, dachte ich. Da hatte doch meine Cousine mit ihrer Frau gelebt, die beiden waren professionelle Foodies und kannten jedes gute Lokal in der Stadt. «Wart ihr schon mal in dieser Taqueria?», fragte ich.

«Beste Fischtacos», antworteten sie. Ich konnte es kaum erwarten, bis die junge Pflegefachfrau wieder an Victors Bett trat und ich ihr das Bild zeigen konnte, das meine Cousine von der auffälligen Wandmalerei der Taqueria geschickt hatte. Sie quietschte vor Freude. «Das ist ja irre, das muss ich meinen Eltern erzählen!»

Alles Schwere und Düstere wurde zur Seite gedrängt. Es war hell im Zimmer. Es war leicht. Und so einfach. «Wie läuft dein Tag heute?»

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