Milena Moser deckt Vorurteile auf
Die Oma unter der Brücke und andere vorschnelle Annahmen

Ich halte mich für vorurteilsfrei und offen. Doch immer wieder merke ich, dass ich da noch Luft nach oben habe.
Publiziert: 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 04.10.2025 um 20:19 Uhr
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Milena Moser erinnert sich wegen der kindlichen Denkweise ihres Enkels daran, warum Menschen in Schubladen denken.
Foto: Getty Images

Darum gehts

  • Milena Moser wird sich einmal mehr bewusst, dass Menschen in Schubladen denken
  • Bei sich selbst merkt die Autorin das bei einem Aufenthalt im Spital
  • Schliesslich stellen sich ihre Vorurteile anderen Menschen gegenüber als falsch heraus
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Milena MoserSchriftstellerin

Mein Enkel zeigt auf eine Brücke und ruft: «Oma!» Denn wenn er sein T-Shirt mit der Golden Gate Bridge drauf trägt oder das Wahrzeichen in seinem Bilderbuch anschaut, sagen seine Eltern: «Da wohnt deine andere Oma, in San Francisco!»

Da ist es nur folgerichtig, dass er denkt, ich wohne unter einer Brücke. Die Vorstellung gefällt mir, sie rührt mich, sie bringt mich zum Lachen. Und ich frage mich, ob er sich wohl wundert, warum ich nicht öfter unter meinem Zuhause hervorkrabble, um ihn zu besuchen.

Einem Kind zuzuschauen, zuzuhören, wie es sich die Welt zusammensetzt, aus den Versatzstücken, den Begriffen, den Erfahrungen, die es kennt, ist faszinierend. Und lehrreich. Weil es so klar ist, wie die Verbindungen entstehen.

Doch je mehr wir wissen, je mehr wir erleben, desto komplizierter wird es. Desto schwieriger ist es, ein (vor)schnelles Urteil zu fällen. Und das ist gut so. Denn unsere automatischen Sortiersysteme sind nur selten hilfreich. Ich bilde mir ja gerne ein, ich sei mir dessen bewusst. Ich halte mich für offen und tolerant. Bis ich wieder mal über mich selber stolpere.

Wie vor zwei Wochen, als wir wieder mal einen Nachmittag und eine Nacht im Warteraum der Notaufnahme verbrachten. Zugegeben, ich war gereizt und schlecht gelaunt. Oder eher: sorgenzerfressen. Der Warteraum leerte sich und füllte sich wieder. Victor schlief schliesslich neben mir ein. Und ich schaute mich um. Erkannte einige Gesichter, die genauso lange hier waren wie ich, ein älteres Paar, beide mit identischen grauen Zöpfen und Stirnbändern.

Aus den Gesprächsfetzen, die zu mir hinüberwehten, schloss ich, dass sie in einem Wohnmobil durchs Land zogen, der Sonne nach. Der Mann, der offensichtlich unter Schmerzen litt, schimpfte ein paarmal lautstark über San Francisco und warum ihm so etwas ausgerechnet in diesem «Höllenloch» passieren musste. Dann hielt seine Frau die Hand hoch, als wolle sie den Verkehr stoppen. «Fang gar nicht erst damit an», sagte sie streng. «Das hilft nichts.» Typische Rednecks, dachte ich. Gehässiger, als es sonst meine Art ist.

Eine mit Tüten und Taschen beladene Frau fiel mir auf, weil ihre Füsse nicht in Schuhen steckten, sondern in kunstvoll geknüpften, rotseidenen Tüchern. Ein modisches Statement oder eine Notlösung? Beides vielleicht? Sie streckte sich über mehrere Stühle hinweg aus, zog eine Decke aus einer Tasche und über ihren Kopf. Achso, vermutlich unbehaust, wie so viele hier, dachte ich. Versorgte die Frau in einer Schublade. Ohne dass sie darum gebeten hatte.

Irgendwann waren Victor und ich die Letzten im Warteraum, doch dann bekam auch er endlich ein Bett zugeteilt. Während ihm die Infusion gelegt wurde, machte ich mich auf die Suche nach einer Toilette. Vor der einzigen Tür hatte sich bereits eine Schlange gebildet. Ich erkannte eine erschöpfte Frau aus dem Warteraum, die sich auf den Rollstuhl ihrer Mutter lehnte, und liess sie vor. Es war mir ganz recht, nach dem endlosen Sitzen und Warten ein wenig zu stehen.

Doch da zupfte mich jemand am Ärmel: «Komm mit mir, Honey, ich weiss, wo's frei ist.» Es war die Frau mit den Zöpfen. Ich folgte ihr durch eine Seitentür und einen Flur entlang. «Wir sind Stammgäste hier.»

«Wir eigentlich auch ...» So kamen wir ins Gespräch, und natürlich stellte sich heraus, dass nichts von dem, was ich über sie gedacht hatte, zutraf. Dass wir mehr gemeinsam hatten, als wir uns vorstellen konnten. Doch dann verschwand sie, so still wie sie aufgetaucht war, und ich hatte sie nicht einmal nach ihrem Namen gefragt.

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