Hoffnungsvoller Herbst
Der geschenkte Sommer

Ich liebe den Herbstbeginn, besonders nach unserem neblig-kalten Sommer. Viel mehr noch als der Frühling ist er für mich eine Zeit der Hoffnung.
Publiziert: 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 07.09.2025 um 13:28 Uhr
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In San Francisco, Milena Mosers Wohnort, war es während des ganzen letzten Sommers neblig.
Foto: Getty Images

Darum gehts

  • «Karl the Fog» versteckte die Sonne in San Francisco 87 Tage hintereinander
  • Milena Moser freut sich auf den Herbst
  • Der Herbst weckt ihre Lust auf Neues und neue Hoffnung
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Milena MoserSchriftstellerin

Jeder kennt den Spruch: «Der härteste Winter, den ich je erlebt habe, war der Sommer in San Francisco.» Ich dachte immer, Mark Twain habe das gesagt, musste mich aber eines Besseren belehren lassen. Doch wer immer es sagte, behielt Recht, vor allem dieses Jahr, als «Karl the Fog», wie die Einheimischen den dicken Nebel vertraulich nennen, 87 Tage hintereinander die Sonne versteckte.

Früher, als meine Kinder hier zur Schule gingen, sagten wir Mütter: «Im September beginnt unsere Zeit. Die Touristen sind weg, die Kinder wieder in der Schule – komm, wir gehen an den Strand!» Das liessen die amerikanischen Arbeitszeiten nur selten zu, aber mir ist dieses Gefühl geblieben. Jetzt beginnt etwas Neues, jetzt ist wieder vieles möglich.

Traditionell wird der Neubeginn eher dem Frühling zugesprochen: Der Schnee schmilzt, der Boden taut, die ersten Pflänzlein spriessen. Im Herbst hingegen verfärben sich die Blätter und fallen von den Bäumen. Das würde eher eine Entschleunigung anzeigen, einen Rückzug. Doch für mich fühlt es sich immer umgekehrt an. Der Herbst macht mir Lust auf Neues. Mich auszuprobieren, mich herauszufordern. Der Herbst weckt auch immer neue Hoffnung.

Ob das damit zu tun hat, dass ich als Kind noch den Schulanfang im Herbst erlebt habe? Ob diese Vorfreude, gemischt mit Nervosität, daher kommt? Eine neue Klasse, vielleicht eine neue Lehrerin. Neuer Stoff. Französisch – kann ich das?

Ist es die frische, kühle Luft am frühen Morgen, das klare Licht?


Oder hat auch das mit dem Alter zu tun? Dieser geschenkte Sommer wird ja auch «Altweibersommer» genannt. Wobei dieser Begriff so irreführend ist wie das berühmte Zitat über San Francisco. Denn offenbar hat er nichts mit Frauen in meinem Alter zu tun, sondern kommt vom altdeutschen Wort «weiben». Das heisst spinnen oder weben und bezieht sich auf die Spinnennetze, die man im Herbst vermehrt sieht. Trotzdem hat vor Jahren eine Frau in Deutschland versucht, den Wetterdienst zu verklagen. Doch das Gericht entschied, der Begriff «Altweibersommer» sei keine Beleidigung.

Das empfinde ich auch so. Selbst wenn er sich auf mich beziehen würde, auf diesen letzten Abschnitt meines Lebens. Denn der ist voller Überraschungen, voller Ideen, voller Hoffnung. Auch wenn er historisch in eine selten düstere Epoche fällt. Ich bin gerne so alt, wie ich jetzt bin.

Wenn ich den Vergleich weiterspinne, dann fühlte sich das Jungsein oft so unberechenbar und verunsichernd an wie der Frühling. Einen Moment lang strahlte ich im Glanz einer hellen Sonne, im nächsten brach schon ein sinnbildliches Gewitter über mich herein. Manchmal schneite es sogar. Aus heiterem Himmel.

«So kann man leben», sagte eine Freundin neulich, als wir auf den rot gestrichenen Holzstühlen in dem kleinen Park sassen, der auf den Autobahntunnels vor der Brücke eingerichtet wurde. Wir hatten die Augen geschlossen, als müssten wir die Brücke gar nicht mehr sehen, den blauen Himmel, die rötlich braunen Hügel auf der anderen Seite der Bay, die Pelikane im Sturzflug. Die Sonne fühlte sich warm an auf meinem Gesicht, es roch nach Pinien und Lavendel und Abgasen.

«Fast könnte man vergessen, in welcher Zeit wir leben», fuhr sie fort. Eine mehrdeutige Bemerkung, die sich auf diese Zeit der Verunsicherung und Angst beziehen konnte wie auch auf die Jahreszeit. Der Sommer war vorbei, der Sommer fängt gerade erst an.

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