Darum gehts
- Milena Moser geht regelmässig in einen kleinen Eckladen einkaufen
- Dabei geht es weniger um den Einkauf als mehr um schöne Begegnungen
- Besonders nach langer Bildschirmzeit braucht Moser einen Tapetenwechsel
Ich stehe in der kurzen Schlange vor der Kasse, als eine ältere Frau mit einer riesigen Geschenkschachtel hereinkommt. Sie steuert direkt die Kasse an, ohne sich auch nur einen der roten Plastikkörbe zu nehmen.
«Schau, was ich hier habe, Honey», sagt sie zur Kassierin und hebt den Deckel an. «Nimm dir ein Stück. Oder zwei.»
Ich bin nicht die Einzige, die den Hals reckt, um in die Schachtel zu spähen. Ich sehe Mandelgipfel und rosa glasierte Donuts.
Die Kassierin zögert, schaut zu uns, wir nicken ihr aufmunternd zu. Niemand hat es eilig. Wir sind zwar hier, um Gemüse zu kaufen, Joghurt, Weissweinessig, Knäckebrot. Aber vor allem, um hier zu sein. Unter Menschen. Unter Nachbarn.
Ich zum Beispiel: Ich weiss so gut wie alle anderen, wie schädlich es für Seele und Geist ist, zu lange in einen Bildschirm zu starren, mich vom Nachrichtenstrudel nach unten ziehen zu lassen, in den Untiefen des Internets zu versinken. Und trotzdem kann ich es manchmal nicht lassen. Meine Stimmung wird schwarz und schwärzer, bis mir plötzlich einfällt, dass ich noch einen Bund Peterli brauche für den Salat später. In Wirklichkeit geht es aber nicht um den Peterli. Aufstehen, rausgehen, an die frische Luft, vor allem aber unter Menschen: Das ist die einfachste und wirkungsvollste Massnahme gegen innere Verdüsterung.
Es ist ein Glück, oder vielleicht eine Rettungsmassnahme meines Unbewussten, dass ich beim Einkaufen ständig etwas vergesse. Und also täglich mehrmals zum Laden pilgere.
Der kleine Eckladen war immer im Besitz derselben Familie, bis sich die Eltern zur Ruhe setzen wollten. Die erwachsenen Kinder hatten kein Interesse, also wurde der Laden verkauft. Der neue Besitzer allerdings schikanierte die Angestellten, liess das Inventar vergammeln, die Kühltheke ging ständig kaputt, und schliesslich musste er ganz schliessen.
Ich erinnere mich an das Gefühl der Verlassenheit, das mich erfüllte, wenn ich an der mit einem Brett vernagelten Ladentür vorbeiging. Dann kam die Pandemie. «So geht das nicht», beschlossen die ursprünglichen Besitzer, kauften den Laden zurück, richteten ihn wieder her und verpflichteten sämtliche Familienmitglieder zur Mitarbeit. «Wir können unsere Nachbarn doch nicht einfach so im Stich lassen!» Der Laden wurde unser Ankerpunkt in stürmischen Zeiten, und das ist er bis heute geblieben.
«Eine Arbeitskollegin hatte heute den letzten Tag», erzählt die Frau mit der Kuchenschachtel. «Aber die Hälfte blieb liegen, es isst ja niemand mehr gern Süsses, und da hab ich gleich an euch gedacht. Ihr seid immer so freundlich, und ihr arbeitet so hart!»
Jetzt nimmt sich die Kassierin mit spitzen Fingern einen Donut und schaut dann entschuldigend zu uns, die wir alle geduldig anstehen. Niemand murrt, nur ein junger Mann hinter mir ruft: «Krieg ich auch ein Stück?»
«Aber ja, Sweetie!» Die Frau trägt die Kuchenschachtel durch den ganzen kleinen Laden, bietet uns allen an, uns zu bedienen. Ich nehme einen Mandelgipfel und beisse gleich hinein.
Die Kassierin legt ihren Donut zur Seite und winkt mich heran.
«Tja, so ist das hier», sagt sie, während sie meine Einkäufe eintippt. «Jeden Tag passiert etwas Schönes.» Als ich nicht gleich antworte, schaut sie auf. «Oh, haben Sie was vergessen?» Sie kennt mich.
«Das», sage ich und zeige mit der Hand auf alles, den Laden, die Frau mit der Schachtel, die kuchenessenden Wartenden. «Das hab ich vergessen.»
Jeden Tag passiert etwas Schönes.