Darum gehts
- Milena Moser nimmt in ihrem Umfeld vermehrt Freunde in Krisen wahr
- Sie kennt die anstrengenden Jahre zwischen Mitte dreissig und Mitte vierzig
- Durch dieses Wissen kann sie versprechen, dass es wieder besser wird
Eigentlich hatte sie mich zum Essen eingeladen, aber als sie mir die Tür öffnet, das Handy zwischen Schulter und Ohr geklemmt, eine Leimflasche in einer Hand, eine ungeöffnete Dose Katzenfutter in der anderen, ist mir sofort klar, dass ich am besten ganz schnell Pizza holen gehe.
Solche Szenen beobachte ich in letzter Zeit wieder häufiger, denn ein grosser Teil meines Umfelds befindet sich gerade in dieser Lebensphase zwischen Mitte dreissig und Mitte vierzig, in der plötzlich von allen Seiten gleichzeitig an einem gezerrt und gerissen wird. Ich kann mich gut an diese Jahre erinnern. Ich denke mit Schaudern an sie zurück. Im Nachhinein weiss ich nicht mehr genau, wie ich sie überstanden habe. Bestimmt nicht sehr elegant. Ich habe viel Geschirr zerschlagen in dieser Zeit, im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Und mich beim Einsammeln der Scherben vor allem selbst verletzt …
Ich fühle also mit.
Das Fiese ist ja, dass wir mit Mitte dreissig meist schon ein besseres Gefühl für uns selbst haben als noch zehn Jahre zuvor. Wir kennen uns besser, können unsere Fähigkeiten einschätzen, sind oft im Beruf schon ein bisschen weiter, übernehmen interessantere, aber eben auch fordernde Aufgaben. Es wäre eigentlich die Zeit, in der wir unsere Flügel ausbreiten könnten wie der Schmetterling auf dem Tennisplatz.
Das muss ich kurz erklären: Letzte Woche ging ich an einem nebligen Novembermorgen an einem Tennisplatz vorbei, der mit einem grünen, netzartigen Material verhüllt war wie ein Kunstwerk von Christo. Ich konnte die Spielenden also nicht sehen, hörte nur das Aufschlagen der Bälle, ein Grunzen und dann eine Stimme, die in gebrochenem Englisch rief: «Spread your wings like a butterfly!»
Seither werde ich das Bild vom tennisspielenden Schmetterling nicht los und wünschte mir, ich hätte das geringste zeichnerische Talent, um es festzuhalten! Das Bild taucht auf, wenn ich meinen jüngeren Freundinnen und Freunden zuhöre. «Es ist einfach zu viel», sagen sie, in Varianten, alle. «Ich komme nicht nach.» – «Ich weiss nicht, wie ich das schaffen soll.»
Ich sehe den Schmetterling vor mir und die vielen Insektennetze, die nach ihm haschen. Die Ansprüche, die Bedürfnisse der anderen und des Lebens an sich. Das Kind hat vergessen zu erwähnen, dass es morgen einen Vortrag über den Weltraum hält und noch schnell ein Modell eines Planetensystems basteln muss. Die Mutter ruft an, um zum dritten Mal an einen Arzttermin zu erinnern, der sie belastet und zu dem sie gern begleitet werden würde. Die Katze taucht mit einem blutenden Ohr an der Balkontür auf, muss eingefangen und zum Tierarzt gebracht werden.
«Was gibts denn eigentlich zum Essen?», fragt jemand. Und dann klingelt es auch noch an der Tür (das war ich).
«Da hab ich eine Pfanne auf den Boden geschmissen, das hat so fürchterlich gescheppert, dass sich die Katze seither unter dem Schrank versteckt …»
Immerhin kannst du den Tierarzttermin absagen, denke ich, sage es aber nicht laut. Ich erinnere mich zu gut, wie zermürbend diese Zeit war. Gerade weil es keine grossen Lebensdramen waren, die meine Flügel einknickten. Sondern die ganz banalen, kleinen, sich endlos wiederholenden Anforderungen des Alltags, die Ansprüche, die von allen Seiten gleichzeitig gestellt werden. Sie halten uns auf dem Boden fest. Wie ein Schmetterlingsnetz, das mit Hunderten von kleinen Bleikugeln beschwert wird.
Ich nehme meine Freundin in den Arm. «Ich habe Pizza bestellt», sage ich. Und: «Es wird besser!»
«Versprochen?»
Versprochen.