Darum gehts
- Überwältigende Emotionen und Dünnhäutigkeit im Alter beeinflussen die Reaktion auf Nachrichten
- Frühere Fähigkeit zur Analyse und Handlung weicht intensiveren Gefühlsreaktionen
- Ein ehemaliger Menschenrechtsanwalt berichtet von emotionalen Veränderungen im Lauf der Zeit
«Geflennt wie ein Schlosshund», bekennt der alte Freund, der immerhin früher als Menschenrechtsanwalt gearbeitet hat und also nicht zimperlich ist. Er weiss, was Menschen anderen Menschen antun können. «Und jetzt sitze ich auf dem Sofa und heule.» Anlass waren die unerträglichen Bilder, die sich in den Nachrichten aneinanderreihen, hungernde Kinder, tränenlose Mütter, zerbombte Wohnquartiere, ein staubbedeckter Arm, der aus den Trümmern ragt, die Finger um etwas gekrampft, das ein Stück Brot sein könnte.
Ich nicke, denn mir geht es genau so, die Bilder erreichen meinen Verstand schon gar nicht mehr, sie treffen direkt in mein Sonnengeflecht und legen mich lahm. Eine andere Freundin hat kürzlich Ähnliches berichtet, wenn auch eher im privaten Bereich: Schicksalsschläge im Freundeskreis lassen sie wund, verzweifelt und vor allem: seltsam handlungsunfähig zurück. Wo sie doch früher immer tatkräftig zur Seite stand. «Ob das vielleicht eine Alterserscheinung ist, vor der uns niemand gewarnt hat?»
Überwältigendes Mitgefühl. Lähmende Empathie. Eine absolute Unfähigkeit, uns abzugrenzen. «Die neue Dünnhäutigkeit», nennt es meine Freundin. Und damit meint sie nicht (nur) im Gesicht.
«Früher», sagt der Anwalt, «früher versetzten mich diese Nachrichtenbilder in einen Zustand der gerechten Empörung. Erinnert ihr euch, wie ich mich immer direkt vor den Fernseher in der WG stellte und flammende Ansprachen hielt, wie ich zum Handeln aufrief, Demos und Aktionen anzettelte?«
Die, die damals dabei waren, grinsen. «Ich konnte das Grauen einordnen, sehen, wo es herkam und wie wir es eindämmen konnten. Ich glaubte, ich könne es mitsamt seinen Wurzeln ausrotten.»
Mit dieser neuen Dünnhäutigkeit, dieser geballten Emotionalität, mit der wir jetzt reagieren, wissen wir noch nicht umzugehen. Unsere Herzen werden immer schwerer, sie füllen sich mit Ziegelsteinen, wie der Bauch des Wolfs im Märchen, sie ziehen uns nach unten und legen uns lahm.
Der alte Anwalt schiebt es nicht auf sein physisches Alter, sondern schlicht auf die Tatsache, dass er heute viel mehr Zeit und Musse hat als früher. Er muss nicht mehr reibungslos und nahtlos funktionieren. «Vielleicht hab ich die Fähigkeit verloren, Erfahrungen und Eindrücke einzuordnen und zu sortieren. Die Fähigkeit, zu analysieren und die richtigen Schlüsse zu ziehen. Das lief alles über meinen Kopf.»
Wir nicken. Wir waren nicht herzlos, als wir jünger waren. Aber irgendwie pragmatischer und damit auch praktischer und effizienter.
Doch wenn man lange genug gelebt hat, hat man unweigerlich gelernt, dass es nicht immer eine Lösung gibt. Und erst recht keine einfache.
Die Haut im Gesicht lässt sich künstlich aufpolstern und glätten. Die Falten lassen sich ausbügeln. Aber das gelebte Leben bleibt, die Erinnerungen an die Nächte, in denen wir mit konzentriert zusammengezogenen Brauen die Welt zu verstehen versuchten. All die explosionshaften Glücksmomente, in denen das Lachen aus uns herausblubberte. All die Male, in denen wir die Lippen zum Kuss spitzten. Ich persönlich trage diese Erinnerungen gern sichtbar in meinem Gesicht. Und ich glaube, sie sind mit der Knitterigkeit meiner Seelenhaut verwandt. Auch diese ist ein Zeichen gelebten Lebens.
Ich möchte sie nicht missen, aber ich möchte lernen, sie umzusetzen, sie zu nutzen. Ich werde berichten …