Darum gehts
- Frau in Flughafenschlange weckt Vorurteile bei Milena Moser
- Doch eine kurze Unterhaltung offenbart Gemeinsamkeiten zwischen zwei scheinbar unterschiedlichen Frauen
- Moser reflektiert über ihre Vorurteile und deren Überwindung
Sie fiel mir in der Schlange auf, ein wandelndes Klischee, eine dieser winzigen, zierlichen Frauen, die mit Preisschildern behängt zu sein scheinen, alles an ihnen wirkt teuer. Die künstlich verschobenen Körperproportionen, das zur Karikatur operierte und aufgespritzte Gesicht, die kunstvoll verwuschelten Haare und die beige Kleidung mit den Markenlogos, die sich auf dem Gepäck wiederholen. Ich spürte, wie ein Widerwillen in mir aufstieg, den ich nur selten empfinde. Denn ich halte mich ja für grosszügig und vorurteilsfrei – aber diese schmeichelhafte Selbsteinschätzung wird vom Leben immer wieder mal auf die Probe gestellt. Wie an diesem Tag, in der Schlange vor der Sicherheitskontrolle. Sie versuchte, sich vorzudrängen, einen Sicherheitsbeamten auf sich aufmerksam zu machen, sie sei spät dran, sagte sie, ihr Flug schon zum Einsteigen bereit. Der Mann ignorierte sie, was mich erstaunte. Sie insistierte in verschiedenen Tonlagen, fordernd und bittend, mit Augenaufschlag und ohne. Mein Ärger wuchs. Was für ein Theater, dachte ich. Wir haben es schliesslich alle eilig.
Dabei stimmte das in meinem Fall nicht einmal. Je älter ich werde, desto früher stehe ich am Perron, am Gate, an der Tramstation. Nur, um dann endlos zu warten. Mein Umfeld macht sich deswegen endlos lustig über mich. Was kümmerte es mich also, ob sich jemand vordrängen wollte? Ich beobachtete sie aus dem Augenwinkel, sie stand jetzt schräg hinter mir, trat von einem Fuss auf den anderen, kaute auf ihrer aufgeblasenen Unterlippe herum, und dann hörte ich plötzlich eine andere Stimme in mir. Sie kam von einer unerwarteten Seite, von einem anderen Ort als mein Ärger, und sie räusperte sich erst einmal. «Ähm, Moser», raunte sie. «Wie war das noch mal mit den Vorurteilen?»
Und so gab ich mir einen Ruck, ich sprang über meinen Schatten und trat zur Seite.
«Kommen Sie», sagte ich und deutete auf den freien Platz vor mir. «Ich habs nicht eilig.» Ich glaube, ich lächelte sogar. Im selben Moment und noch bevor sie reagierte, war mein Ärger verflogen. Freundlichkeit fühlt sich schlicht viel besser an als Missmut, das ist ja eigentlich logisch.
Sie zögerte einen Moment, und ich fragte mich, ob sie Freundlichkeit von Frauen schlicht nicht gewohnt war. Schämte mich ein wenig. Dann nahm sie mein Angebot an und stellte sich neben mich. Als reisten wir zusammen. Sie bedankte sich, erzählte, warum sie an diesem Tag so spät dran war, obwohl sie ja viel fliege. Wir kamen ins Gespräch, nur kurz und unterbrochen von einem aussergewöhnlich strengen Kontrolleur. Es stellte sich heraus, dass wir einiges gemeinsam hatten, dass wir an zwei Orten lebten und arbeiteten, die Selbständigkeit und einen nicht schnurgerade verlaufenden Lebensweg.
Dann war sie weg. Ich schaute ihr nach und fragte mich, was diesen ersten, fast intuitiven Widerwillen in mir geweckt hatte. Wo ich doch sonst immer die Freiheit des persönlichen Ausdrucks auch über Kleidung und Aussehen feiere? Mich gegen vorschnelle Urteile ausspreche, weil ich sie gefährlich finde? Das halbbatzige Argument, dass sich die Feministin in mir gegen puppenhafte Schönheitsideale auflehnte, hatte die kurze Unterhaltung mit der Frau ja bereits entschärft. Ich kam zu keinem richtigen Schluss. Ausser dem, dass ich wohl öfter über meinen Schatten springen sollte.
Später erzählte ich Victor von dieser Begegnung. Den Begriff «über den eigenen Schatten springen» kannte er nicht. Ich hatte ihn wörtlich übersetzt, und er lachte laut auf. «Stell dir das mal bildlich vor, das geht doch gar nicht!»
«Doch.»