Darum gehts
- Ersatzfreiheitsstrafen in der Schweiz: Haft für unbezahlte Bussen und Geldstrafen
- Gefängnisse stossen an ihre Grenzen
- 2023 begannen 9297 Strafvollzüge, davon 42 Prozent Ersatzfreiheitsstrafen
Beim Einlass in die Justizvollzugsanstalt Wauwilermoos in Luzern stehen einige Häftlinge im Innenhof. Sie haben Mittagspause. Es wird gelacht, geredet, geraucht. Alle tragen dunkelblaue Hosen und ein oranges T-Shirt. Wer friert, trägt einen dunkelblauen Trainingsanzug. Zwischen Beton, Gittern und Mauern streifen ein paar Katzen umher. Sie lassen sich von den Männern streicheln – die «Gfängnis-Büsi».
Was auf den ersten Blick friedlich wirkt, ist streng reglementiert. Nicht alle Häftlinge haben Zugang zu diesem Hof. Männer, die eine Ersatzfreiheitsstrafe verbüssen, sind vom übrigen Vollzug abgetrennt. Ihr Alltag findet in einem separaten Bereich statt – in einem Nebengebäude, abgeschirmt durch dicke Mauern und Sicherheitsscheiben.
Ersatzfreiheitsstrafe in der Schweiz
In der Schweiz gilt ein einfacher Grundsatz: Wer Bussen oder Geldstrafen nicht bezahlt, verbüsst sie im Gefängnis. Ein finanzielles Strafmass wird zu Freiheitsentzug. So klar die Regel klingt, so weitreichend sind die Folgen.
2023 begannen in der Schweiz 9297 Straf- und Massnahmenvollzüge. Rund 42 Prozent davon waren Ersatzfreiheitsstrafen. Haft also, nicht wegen Gewaltdelikten, sondern wegen Zahlungsunfähigkeit. Damit sitzt ein erheblicher Teil der Inhaftierten nicht wegen Gewalttaten oder Einbrüchen im Gefängnis, sondern wegen unbezahlter staatlicher Forderungen. Betroffen sind häufig Menschen mit instabilen Lebensverhältnissen: geringes Einkommen, prekäre Wohnsituationen, Suchtprobleme, soziale Belastungen.
Die Konsequenzen sind sichtbar: Zellenknappheit. Gefängnisse, die an ihre Grenzen stossen. In Luzern mussten sogar Container aufgestellt werden, um zusätzliche Plätze zu schaffen. Kritikerinnen und Kritiker sprechen von einer Praxis, die in erster Linie nicht Verbrechen bestraft, sondern Armut. Befürworter wiederum halten dagegen: Regeln müssten für alle gelten. Wer nicht zahlt, sitzt.
Zwischen diesen beiden Positionen bewegt sich die Realität.
Im abgetrennten Bereich
Während draussen Menschen versuchen, Rechnungen zu begleichen und über die Runden zu kommen, kosten ihre Inhaftierungen den Staat und damit die Steuerzahlenden – jeden einzelnen Tag.
Hier, im Ersatzfreiheitsstrafen-Bereich, sitzt auch Leo (34). Er verbüsst 53 Tage Haft. Überwiegend aufgrund einer Geldstrafe von 50 Tagessätzen à 100 Franken. Hintergrund sind mehrere Vorfälle: eine Auseinandersetzung mit Körperverletzung, Betäubungsmitteldelikte, wiederholte Verzeigungsberichte wegen Ruhestörung und Drogenkonsum, später kamen noch Bussen wegen Schwarzfahrens dazu.
Er hätte all das bezahlen können. Das System gibt diese Möglichkeit. Doch er tat es nicht. Gründe nennt er viele: kein Geld, fehlende Stabilität, falsche Kreise. Am Ende bleibt die einfache Tatsache: Er hat nicht bezahlt und sitzt deshalb.
Seine Entlassung ist kurz vor Weihnachten. Er nennt die Haft «eine Lehre». Wenn er zurückblickt, sagt er: «Was habe ich bloss gemacht?» Er spricht von Hoffnung auf einen Neuanfang, doch gleichzeitig trägt er die Konsequenzen: ausgeschlossen vom Alltag, mit Schulden und einer Vergangenheit, die ihn einholt. Der Freiheitsentzug trifft ihn, weil er seine finanziellen Verpflichtungen nicht erfüllt hat.
Vom Kosovo in den Knast
Leo wurde 1991 im Kosovo geboren, nahe der Grenze zu Albanien. Seine Kindheit war geprägt vom Krieg. Er sagt, er habe Dinge gesehen, «die keiner sehen sollte»: tote Menschen und Tiere, hungernde Nachbarn, tägliches Überleben. Als Jugendlicher floh er, in der Hoffnung auf Sicherheit. Vor 15 Jahren kam er mit seinen drei Brüdern in die Schweiz.
Hier arbeitete er zwölf Jahre lang als Gerüstbauer. Er heiratete, bekam einen Sohn. Sein Leben war stabil und geregelt – bis zur Trennung von seiner Frau. Da verlor er alles. Erst seine Familie, dann die Wohnung, dann den Job. «Ein Teufelskreis», sagt er. Alkohol. Kokain. Streit. Anzeigen. Betreibung. Die Delikte und Bussen häufen sich. Und irgendwann wächst der Berg an Kosten schneller, als er hinterherkommt.
Als die offenen Beträge nicht mehr zu begleichen waren, griff das System.
Knast statt Chance – Alltag hinter Mauern
Der Tagesablauf ist klar geregelt. Frühstück essen die Männer gemeinsam. Mittag- und Abendessen allein in der Zelle. Dazwischen arbeiten sie. In einer Werkhalle spalten sie Holz für den Verkauf an die Landi. Ab 17 Uhr müssen die Häftlinge wieder zurück in ihre Zellen. Dann ist der Tag vorbei.
Leo betrachtet diesen Alltag nüchtern: «Hier habe ich Ruhe, Struktur und Zeit zum Nachdenken.» Doch er weiss: Die Strukturen, die ihm im Gefängnis Halt geben, werden draussen oft wieder brüchig. Die Betreibung und der Eintrag im Strafregister bleiben bestehen. Damit wird es schwierig, eine Wohnung zu finden oder einen Arbeitgeber, der Vertrauen hat. Seine Vergangenheit steht schwarz auf weiss – in Akten, Registern, Auszügen. Und sie begleitet ihn, egal wie sehr er sich bemüht.
Eine kurze Haft kann Ordnung schaffen, aber sie behebt selten die Probleme, die zu ihr geführt haben. Bei der Entlassung werden die Männer vor die Gefängnistür gestellt und verabschiedet. Ab diesem Moment sind sie auf sich allein gestellt. Ohne Unterstützung bleibt das Risiko hoch, erneut abzurutschen.
Zwischen Strafe und Zukunft
Leos Geschichte zeigt eine Realität, die viele betrifft: ein System, das klare Grenzen setzt, aber selten Perspektiven schafft. Die Ersatzfreiheitsstrafe ist gesetzlich verankert. Und doch bleibt die Frage offen, ob sie den richtigen Menschen die richtige Konsequenz bringt.
Leo hofft auf einen Neustart: eine Wohnung, eine Therapie, den Kontakt zu seinem Sohn, einen Job. «Mein grösster Traum ist der Gerüstbau», sagt er.
Ob er diesen Weg findet, entscheidet sich nicht hinter den Mauern, sondern draussen. Dort, wo Schulden, Akten und alte Muster warten. Dort, wo Unterstützung oft fehlt. Und dort, wo sich zeigen wird, ob ein kurzer Freiheitsentzug eine Chance eröffnet – oder nur ein weiterer Bruch in einem Leben, das schon viele Risse hat.