Darum gehts
- Neues Gesetz erweitert Befugnisse des Generalstaatsanwalts über Antikorruptionsbehörden in der Ukraine
- Kritiker warnen vor Bedrohung der unabhängigen Korruptionsbekämpfung und autoritärer Entwicklung
- Tausende Menschen protestierten in Kiew und anderen ukrainischen Grossstädten gegen das Gesetz
Der Angriffskrieg von Russland ist nicht die einzige Front, an der die Ukraine kämpft. Ein weiterer Feind im eigenen Land heisst Korruption. Laut dem Korruptionsindex von Transparency International rangierte die Ukraine 2023 auf Platz 104 von 180. Die Bekämpfung von Korruption ist eine zentrale Bedingung für einen EU-Beitritt.
Jetzt ist in der Ukraine zusätzlich ein brisantes Gesetz in Kraft getreten. Es erweitert die Befugnisse des ukrainischen Generalstaatsanwalts Ruslan Krawtschenko (35) in Bezug auf die zwei wichtigsten Antikorruptionsbehörden des Landes. Krawtschenko gilt als enger Vertrauter von Präsident Wolodimir Selenski (47). Selenski hatte das Gesetz am Dienstag unterzeichnet, nachdem es vom Parlament durchgewinkt worden war.
Kritiker werfen Selenski nun vor, dass er mit diesem Schritt in eine autoritäre Richtung abdrifte und die Unabhängigkeit der Antikorruptionsbehörden nicht mehr gewährleistet sei. In Kiew, Lwiw und anderen ukrainischen Grossstädten versammelten sich Tausende Menschen, um gegen das Gesetz zu protestieren. Blick beantwortet die wichtigsten Fragen zu dem Polit-Knall.
Wie begründet Selenski die Entscheidung?
Das Nationale Antikorruptions-Büro (Nabu) und die auf Korruptionsbekämpfung spezialisierte Staatsanwaltschaft (Sapo) werden dem Generalstaatsanwalt laut Selenski unterstellt, um die beiden Behörden von «russischem Einfluss» zu befreien. «Das ist es, was die Ukraine wirklich braucht», schrieb Selenski auf Telegram.
Selenski warf den Behörden vor, bislang keine Erklärung geliefert zu haben, warum «die Russen immer noch an die Informationen kommen, die sie brauchen». Ferner forderte Selenski, dass korrupte Personen in der Ukraine und auch ins Ausland geflüchtete Ukrainer einer Strafe nicht mehr entkommen sollen.
Was werfen Kritiker Selenski vor?
Das Kiewer Büro von Transparency International warnte vor einer direkten Bedrohung für die unabhängige Korruptionsbekämpfung der Ukraine. «Selenski und die Abgeordneten machen den in einem Jahrzehnt hart erkämpften Fortschritt bei den Reformen zur Korruptionsbekämpfung zunichte», schrieb die Organisation auf der Plattform X.
Der ukrainische Antikorruptionsaktivist Vitali Schabunin (40) sieht den Entscheid ebenfalls kritisch «Selenskis Generalstaatsanwaltschaft wird die Ermittlungen gegen alle Freunde des Präsidenten einstellen», prophezeit er auf Facebook.
Anastasia Radina (41), eine Abgeordnete der Regierungspartei, die sich gegen das Gesetz aussprach, sagte laut «Financial Times», dass mit der Verabschiedung des Gesetzes die ukrainische Infrastruktur für Korruptionsbekämpfung «effektiv demontiert» würde und die beiden Gremien «zu rein dekorativen Institutionen» würden, «die vollständig vom Willen des Generalstaatsanwalts abhängig sind».
Wie reagiert das ukrainische Volk?
Mit Protesten. Die grösste Demonstration fand dabei in der Hauptstadt Kiew statt, wo Tausende von Menschen, hauptsächlich junge Leute, auf die Strasse gingen. Die Menschen riefen Augenzeugenberichten zufolge «Hände weg vom Nabu» und «Legt euer Veto gegen das Gesetz ein». Auf einem Plakat war zu lesen: «Mein Vater ist nicht dafür gestorben.»
Auch in Lwiw, Odessa, Dnipro und Iwano-Frankisk versammelten sich empörte Bürger. Der Bürgermeister von Lwiw, Andrij Sadowi (56), lobte den Protest der jungen Menschen in der Stadt. «Eine Jugend, die Hoffnung macht», schrieb er auf X.
Wie reagieren die westlichen Verbündeten der Ukraine?
EU-Erweiterungskommissarin Marta Kos (60) erklärte, die Entscheidung würde sich negativ auf die Beitrittsverhandlungen auswirken. «Unabhängige Einrichtungen wie Nabu und Sapo sind für den EU-Beitritts-Prozess der Ukraine unverzichtbar», teilte sie auf X mit. In Kiew gaben die Botschafter der G7-Staaten eine gemeinsame Erklärung ab, in der sie «ernsthafte Bedenken» äusserten.