Darum gehts
Der russische Präsident Wladimir Putin (72) testet die Nato. In der Nacht auf Mittwoch hat seine Armee gegen 20 iranische Schahed-Kampfdrohnen nach Polen geschickt. Da ist ziemlich sicher: Bei so vielen Geschossen handelt es sich nicht mehr um eine Fehlleitung, sondern um Absicht.
Der polnischen Abwehr ist es gelungen, die Drohnen zu erkennen und abzuschiessen. Die Nato hat im Rahmen eines «Quick Reaction Alert» als Sofortmassnahme Kampfjets – auch deutsche, schwedische und niederländische – losgeschickt, um den Luftraum zu sichern. Die grosse Frage ist, wie die Nato weiter auf die neue russische Eskalationsstufe reagieren wird.
Bisher waren es einzelne Drohnen, die in den polnischen Luftraum eingedrungen waren und die sich möglicherweise verirrt hatten. In der Nacht auf Mittwoch waren es jedoch gleich mehrere, die allerdings von der polnischen Luftabwehr abgeschossen werden konnten. Einzig in der Ortschaft Wyryki an der ukrainischen Grenze wurden Gebäude durch Trümmerteile beschädigt.
Das Land ist in höchster Alarmbereitschaft. Am Morgen wurde die Bevölkerung aufgefordert, zu Hause zu bleiben und die Mitteilungen der Behörden zu verfolgen. Vier Flughäfen wurden vorübergehend geschlossen.
Reaktionsfähigkeit testen
Zwar beteuert der belarussische Generalmajor Pavel Muraveiko auf Telegram, dass sich im Rahmen einer Offensive auf die Ukraine einige Drohnen nach Polen «verirrt» hätten. Doch für die Experten ist klar: Es war ein gezielter Angriff, mit dem Putin den Westen herausfordern will.
Marcel Hirsiger, Osteuropaexperte an der Fachhochschule Nordwestschweiz, sagt gegenüber Blick: «Ein Zufall ist unwahrscheinlich. Es handelt sich um eine bewusste Provokation, um die Reaktionsfähigkeit der Nato zu testen – und zwar militärisch und politisch.» Denn das russische Regime gehe davon aus, dass das westliche Verteidigungsbündnis wie auch die EU nicht angemessen handlungsfähig seien.
Welche Ziele die Drohnen angepeilt haben, ist nicht klar. Sie könnten ziellos abgefeuert worden sein – allein um die Reaktionsfähigkeit zu prüfen. Ralph D. Thiele, Vorsitzender der deutschen Politisch-Militärischen Gesellschaft und Präsident von Eurodefense Deutschland, schliesst nicht aus, dass sie auch Umschlagplätze westlicher Militärlieferungen in die Ukraine ausspionieren sollten.
Krieg vermeiden
Da Polen ein Nato-Mitglied ist, steht auch die Nato in Alarmbereitschaft. Wie wird sie auf den Angriff reagieren? Die Nato sieht den Vorfall zwar als «beispiellosen Aggressionsakt», aber nicht als direkten bewaffneten Angriff auf polnische Streitkräfte oder auf zivile Infrastruktur.
Daher schliesst Hirsiger eine Ausrufung von Artikel 5, gemäss dem die Nato einem angegriffenen Land zu Hilfe kommen muss, und somit eine militärische Reaktion der Nato aus. Hirsiger: «Dies würde unmittelbar in einen Krieg Russlands gegen die Nato führen.»
Dennoch wird die Nato reagieren. Thiele: «Sie wird ihre Wachsamkeit weiter verbessern, ebenso die Möglichkeiten, das Eindringen von Drohnen zu verhindern.» So könnten die Truppen sowie die Luftabwehrsysteme an der Ostflanke weiter aufgestockt werden, begleitet von scharfen Protestnoten an den Kreml.
Auch weitere Sanktionen gegen Staaten wie den Iran, die Russland Drohnen und andere Waffen liefern, sind möglich. Mit anderen Worten: Statt auf offenen Krieg wird die Nato auf Abschreckung und Deeskalation setzen.
Am Mittwoch hat der polnische Ministerpräsident Donald Tusk (68) eine Konsultation nach Artikel 4 des Nato-Vertrags beantragt. Dieser Artikel sieht vor, dass die Mitgliedstaaten sich zu Beratungen zusammensetzen, wenn ein Nato-Staat von aussen eine Bedrohung seiner territorialen Unversehrtheit, politischen Unabhängigkeit oder seiner Sicherheit sieht.
Europa auf sich allein gestellt
Und Donald Trump (79)? Wird der US-Präsident jetzt endlich seine angekündigten Sanktionen gegen Russland und Staaten, die mit Russland handeln, umsetzen? Der republikanische Kongressabgeordnete Joe Wilson (78) fordert von Trump jedenfalls umgehend harte Sanktionen und mehr militärische Unterstützung für die Ukraine.
Doch die Experten sind skeptisch. Viel dürfte von Trump nicht zu erwarten sein. «Er wird den Vorfall beim nächsten Gespräch mit Putin ansprechen und herunterspielen», meint Thiele.
Auch Hirsiger sagt: «Trump hat in den letzten Wochen immer wieder sehr unentschlossen reagiert. Das dürfte auch jetzt der Fall sein.» Eine militärische Intervention der USA schliesst Hirsiger aus. «Europa ist in diesem Krieg auf sich allein gestellt und muss selber für eine angemessene und zeitnahe Reaktion sorgen.»