Munition, Granaten und Raketen – Europas Rüstungsindustrie erwacht
Vom Friedenskontinent zum Waffenproduzenten

Europa rüstet auf wie nie zuvor: Neue Waffenfabriken schiessen aus dem Boden, Milliarden fliessen in Munition und Raketen. Nach Jahren des Zauderns zeigt der Kontinent Entschlossenheit – und macht klar: Auf die USA will man sich nicht länger verlassen.
Publiziert: 20:02 Uhr
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Aktualisiert: vor 37 Minuten
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Schon ab diesem Jahr will Deutschland 25’000 Artilleriegranaten des Nato-Standardkalibers 155 Millimeter produzieren, ab 2027 bis zu 350’000 jährlich.
Foto: Getty Images

Darum gehts

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Chiara SchlenzAusland-Redaktorin

Ein Werk mitten in der Lüneburger Heide, 60 Quadratkilometer eingezäuntes Sperrgebiet. Hier, wo bereits seit 1899 Kanonen getestet werden, rollen ab sofort wieder Granaten vom Band – und zwar in massiver Zahl. In Unterlüss, im deutschen Niedersachsen, eröffnete der Rüstungskonzern Rheinmetall am Mittwoch das «grösste Munitionswerk Europas, wenn nicht gar der Welt».

Das Timing könnte kaum symbolträchtiger sein. Denn während US-Präsident Donald Trump (79) und Kremlchef Wladimir Putin (72) vor zwei Wochen beim Gipfel kaum Sicherheitsgarantien für die Ukraine formulierten, zeigt Europa: Das alte Schreckgespenst der Aufrüstung, spukt nicht mehr. Dafür gibt es gute Gründe. 

Vom Tabu zum Paradigmenwechsel

Doch so entschlossen, wie es jetzt aussieht, war Europa nicht von Anfang an. Auslöser für die Aufrüstung war der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine 2022, der Europa brutal vor Augen führte, dass Frieden keine Selbstverständlichkeit ist. Trotzdem stritten die Europäer monatelang über Waffenlieferungen, blockierten sich gegenseitig bei Panzern, Raketen und Munition. Der Unwille der USA, klare Sicherheitsgarantien abzugeben, hat den europäischen Kurs nur noch zusätzlich beschleunigt.

Die Rüstungsindustrie, jahrzehntelang im Dornröschenschlaf, musste erst mit Milliardenaufträgen aus dem Schlaf gerüttelt werden. Heute aber sind die Zeichen unübersehbar. Schon im Juni begrub die Nato ihr altes Zwei-Prozent-Ziel. Künftig sollen die Mitgliedstaaten fünf Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts in Verteidigung investieren – ein Paradigmenwechsel. Noch vor wenigen Jahren galt Aufrüstung als politisches Gift, heute als Existenzsicherung.

Fabriken wie Pilze

Das sichtbarste Symbol dieser Zeitenwende steht nun in Unterlüss. Schon ab diesem Jahr sollen dort 25’000 Artilleriegranaten des Nato-Standardkalibers 155 Millimeter produziert werden, ab 2027 bis zu 350’000 jährlich. Zum Vergleich: Das entspricht etwa der Hälfte der Zahl, die Rheinmetall heute pro Jahr europaweit herstellt. Auch Rheinmetall-Chef Armin Papperger (62) machte bei der Eröffnung klar, wohin die Reise geht: «Das neue Werk ist ein Symbol dafür, dass wir handeln.» Und er denkt schon weiter – nach Litauen, Grossbritannien und sogar in die Ukraine selbst, wo künftig produziert werden soll.

Unterlüss ist nur die Spitze des Eisbergs. Seit Beginn des Kriegs schiessen in ganz Europa Waffenfabriken aus dem Boden – dreimal schneller als in Friedenszeiten, wie Financial Times Mitte August berichtete. Mehr als sieben Millionen Quadratmeter neue Rüstungsindustrie entstanden, von Polen bis Finnland, von Grossbritannien bis Ungarn. Das entspricht rund 100 Fussballfeldern. Der norwegische Konzern Kongsberg eröffnete eine Raketenfabrik, Nammo baute in Finnland massiv aus, BAE Systems in England multipliziert seine Granatenproduktion um das Sechzehnfache.

Milliarden aus Brüssel

Europa verwandelt sich – langsam, aber sicher – in einen Rüstungsstandort. Angetrieben wird das auch von Brüssel. Mit dem EU-Programm ASAP («Act in Support of Ammunition Production») fliesst eine halbe Milliarde Euro in den Ausbau der Munitionsproduktion. Laut EU-Zahlen stiegen die Verteidigungsausgaben der Mitgliedsstaaten zwischen 2021 und 2024 um über 30 Prozent.

Bis 2027 sollen weitere 100 Milliarden Euro dazukommen. Ein weiteres Milliardenprogramm ist bereits in Planung – diesmal für Raketen, Drohnen und Luftabwehrsysteme. Zahlen, die vor wenigen Jahren noch als undenkbar galten. Heute Realität, weil Putins Feuerwalze in der Ukraine zeigt: Nur wer Artillerie und Raketen hat, kann bestehen.

Kein Warten mehr auf Amerika

Gleichzeitig wächst Europa auch politisch zusammen. Am Mittwoch treffen sich die EU-Aussenminister in Kopenhagen – mit seltener Geschlossenheit. Der Tenor: Europa kann sich nicht mehr darauf verlassen, dass Washington es schon richten wird.

Schon letzte Woche zeigten die Europäer, dass sie geschlossen auftreten können: Gemeinsam mit Wolodimir Selenski (47) zogen sie in Washington vor – ein Bild, das selbst Trump nicht übersehen konnte. Die Botschaft ist unmissverständlich: Europa wartet nicht länger darauf, dass die USA den Schutzschirm öffnen. Der Kontinent baut seinen eigenen.

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