Darum gehts
Die Nato-Staaten rüsten massiv auf. Am Gipfel in Den Haag beschlossen sie am Dienstag, ihre Verteidigungsbudgets auf 5 Prozent ihres jeweiligen Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen. Zum Vergleich: Wenn die Schweiz mitziehen würde, würde das eine siebenfache Erhöhung unseres Verteidigungsbudgets auf rund 40 Milliarden Franken bedeuten!
Das heute zersplitterte Nato-Bündnis will zur «stärksten Allianz der Geschichte» werden. Das ist nötig, denn nach Ansicht von Politikern und Experten könnte Russland bald zu einem Angriff auf Europa blasen. Was braucht es, um Europa militärisch fit zu machen?
Zu den Experten, die ebenfalls mit einem russischen Angriff rechnen, zählt Fabian Hoffmann (28), der an der Universität Oslo über die europäische und transatlantische Verteidigungspolitik forscht. In einem Beitrag auf foreignpolicy.com warnt er: «Mehrere Nato-Geheimdienste haben festgestellt, dass Russland nicht nur enorme Mengen an in der Ukraine verlorenem Personal und Material ersetzt, sondern auch Waffen hortet, seine Streitkräfte insgesamt ausweitet und die militärische Infrastruktur nahe der Ostgrenze der Nato modernisiert und ausbaut.»
Ob der russische Präsident mit einem Angriff bis zum Ende des Ukraine-Krieges zuwartet, ist wahrscheinlich, aber nicht sicher. «Er könnte sich auch für ein früheres Handeln entscheiden», meint Hoffmann.
Angst vor Angriff auf Achillesferse
Gabrielius Landsbergis (43), bis 2024 Aussenminister von Litauen, hat ein konkretes Angriffsszenario im Kopf: Ein russischer Zug bleibt im Suwalki-Korridor angeblich wegen einer Panne stehen. Russische Polizisten und später Soldaten marschieren in Litauen ein, um den russischen Passagieren in Feindesland zu «helfen». «Plötzlich ist ein Teil Litauens nicht mehr unter Kontrolle des Landes», schreibt der Politiker auf foreignpolicy.com.
Es gibt weitere Szenarien: Russland eskaliert Spannungen um die norwegische Inselgruppe Spitzbergen, indem es historische Ansprüche geltend macht und provoziert, etwa durch das Hissen von Flaggen. Möglich ist auch das Anstacheln grosser russischer Minderheiten in andern Ländern.
Front im Osten stärken
Laut Hoffmann müssen sich die europäischen Nato-Staaten in einem Drei-Punkte-Programm neu aufstellen:
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Ukraine unterstützen: Solange Russland gezwungen ist, den Grossteil seiner Ressourcen für diesen Krieg einzusetzen, ist ein Angriff auf weitere Gebiete viel schwieriger.
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Front stärken: Die wirksamste Verteidigung ist das Blockieren eines Grenzübertritts. Daher braucht es eine deutliche Aufstockung der Truppen an der Grenze zu Russland.
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Abschreckung intensivieren: Die Nato muss in eine glaubwürdige Fähigkeit zum Gegenschlag investieren und klarstellen, dass jeder Raketenangriff mit gleicher Münze heimgezahlt würde. Zudem braucht es das Signal, keine nukleare Eskalation anzustreben, aber nicht vom Einsatz von Atomwaffen zurückzuschrecken.
Auf der Einkaufsliste der Nato-Mitgliedsländer stehen nebst traditionellen Technologien wie Flugzeugen, Panzern, U-Boot-Abwehr und Langstrecken-Angriffssystemen auch neue Technologien wie Drohnen, satellitengestützte Waffensysteme und der Ausbau der Künstlichen Intelligenz.
Auf die Ausdauer kommt es an
Doch mit Einkaufen ist es nicht getan. Franz-Stefan Gady (43), Analyst am International Institute for Strategic Studies in London, schreibt: «Die eigentliche Herausforderung besteht darin, dass Europa die entscheidenden Fähigkeiten fehlen, die für die Integration und Aufrechterhaltung langfristiger Kampfeinsätze nötig sind.» Dazu gehörten etwa Aufklärung, Überwachung, die Möglichkeit für Präzisionsangriffe auf empfindliche Ziele, weitreichende Luftabwehrsysteme sowie eine robuste Infrastruktur für Führung und Kommunikation.
Am Nato-Gipfel in Den Haag kündigte die britische Regierung den Kauf von mindestens zwölf Kampfjets des Typs F-35A an, und zwar in einer Version, die Atombomben abwerfen kann. Auch das deutsche Verteidigungsministerium gab bekannt, in Norwegen Marschflugkörper zu kaufen. Die Aufrüstung Europas ist bereits in vollem Gange.