Putin spielt taktisch auf Zeit
Russlands Sommeroffensive in der Ukraine stockt trotz Rekordangriffen

Russlands Sommeroffensive in der Ukraine verliert an Schwung. Trotz massiver Luftangriffe und des Verschleisses von Soldaten bleiben militärische Erfolge aus. Auch Friedensgespräche sind in weite Ferne gerückt. Der Kreml setzt auf eine Strategie des Zermürbens.
Publiziert: 01:59 Uhr
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Aktualisiert: 07:42 Uhr
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Der russische Kriegspräsident Wladimir Putin setzt im Ukraine-Krieg auf eine Taktik des Zermürbens und Ausblutens.
Foto: Keystone

Darum gehts

  • Russlands Sommeroffensive stockt trotz Rekordangriffen auf die Ukraine
  • Putin setzt auf Strategie des Aushungerns, Zermürbens und Dauerbeschusses
  • Russland rekrutiert monatlich bis zu 40'000 neue Soldaten für den Krieg
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Daniel KestenholzRedaktor Nachtdienst

Es war der bisher grösste russische Luftangriff seit Kriegsbeginn: In der Nacht von Samstag auf Sonntag attackierte Russland die Ukraine mit 477 Drohnen und 60 Raketen – darunter vier Kinschal-Hyperschallraketen, wie aus Kiew verlautet. Doch Moskaus Sommeroffensive stockt.

Trotz Rekordangriffen verliert Russlands Vormarsch an Schwung. Abgesehen von der Eroberung eines kleinen, aber wertvollen Lithiumvorkommens im ostukrainischen Donezk konnten die Russen bisher keine grossen militärischen Erfolge erzielen.

Die Operation begann im Mai, nachdem monatelang Truppen aufgebaut und Taktiken verfeinert worden waren. Zunächst meldeten die russischen Streitkräfte die schnellsten Geländegewinne, insbesondere in der Region Donezk.

Doch auch in der strategisch wichtigen Oblast Sumy im Nordosten der Ukraine wurden die Russen «in dieser Woche gestoppt und die Frontlinie stabilisiert», sagt der ukrainische Oberbefehlshaber Olexander Sirski (59) am Donnerstag. Der russische Kriegspräsident Wladimir Putin (72) wollte die Einnahme von Sumy eben noch «nicht grundsätzlich ausschliessen».

Strategie des Aushungerns und Zermürbens

«Die Russen haben im Moment wirklich nicht die Fähigkeit, etwas Neues und Besonderes zu beginnen», sagt Angelica Evans, Russland-Analystin am Institute for the Study of War. «Die Sommeroffensive wird lediglich die Fortsetzung dessen sein, was sie im Frühling getan haben», so Evans zum britischen «The Telegraph».

Friedensgespräche sind in weite Ferne gerückt. Am Freitag sagte Putin bei dem wichtigsten Wirtschaftsforum Russlands in St. Petersburg, dass Russland und die Ukraine sich nicht annähernd auf Friedensbedingungen einigen können. Die gegenseitigen Forderungen seien «absolut widersprüchlich».

Putin spielt auf Zeit. «Putins Strategie ist keine der schnellen Siege», analysiert der Russland-Forscher Alexander Dubowy in der «Berliner Zeitung». «Es ist eine Strategie des Aushungerns, des Zermürbens, des politischen und militärischen Dauerbeschusses.»

Russlands Krieg gegen die Ukraine sei «in eine Phase eingetreten, die weniger von spektakulären Offensiven als von einem zermürbenden Dauerdruck entlang der gesamten Front geprägt ist. Der Kreml setzt dabei auf die Taktik des permanenten Drucks – militärisch, diplomatisch und psychologisch.»

Ressource Mensch als Kriegstaktik

Russland rekrutiert monatlich bis zu 40'000 neue Soldaten, vor allem durch finanzielle Anreize und sozialen Druck in armen Regionen. Für viele junge Männer ist der Kriegsdienst eine der einzigen Chancen auf Einkommen oder Entschuldung.

Dabei wird der Mensch zunehmend als verbrauchbare Ressource behandelt – Verluste werden in Kauf genommen, solange der Nachschub an Personal gesichert ist. «Der Kreml kann es sich leisten, Soldaten zu verschleissen», so Dubowy.

Die zermürbende Pattstellung spiele Putin in die Karten, solange der Westen passiv bleibe. Der militärische Dauerdruck zehre die Ukraine aus.

«Putin kann nicht aufhören»

Der Krieg sei für Putin zur Daseinsberechtigung geworden, sagt der Aussenminister von Estland, Margus Tsahkna (48). «Russland wird nicht aufhören. Und ehrlich gesagt: Putin kann nicht aufhören», so Tsahkna in einem Interview mit «Kyiv Independent» beim Nato-Gipfel unlängst in Den Haag. «Putin ist ein Kriegsherr. Und für ihn ist dieser Kampf bereits existenziell. Er kann den Krieg einfach nicht beenden.»

Putin habe diesen Plan bereits 2008 auf der Münchner Sicherheitskonferenz vorgestellt. «Es ging um die Wiederherstellung des Sowjetimperiums – und er ist fest entschlossen, diesen Plan umzusetzen.»

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