Darum gehts
Die Aussage des ehemaligen Luftwaffenchefs Bernhard Müller (68) hat in der Schweiz eine kleine Schockwelle ausgelöst. Gegenüber der «Sonntagszeitung» warnte er vor einem Angriff Russlands auf die Schweiz.
Ist das bloss ein Hirngespinst oder eine reale Bedrohung? Wer würde der Schweiz helfen? Blick liess die Aussage von internationalen Militär- und Sicherheitsexperten einschätzen. Ihre Aussagen sind beunruhigend.
Die Russen züngeln überall: Am 9. September drangen rund 20 russische Drohnen nach Polen ein, was zu einer Nato-Abfangaktion führte. Am Sonntag waren es drei MiG-31-Jets über estnischem Luftraum, die eine Nato-Krisensitzung auslösten.
In den vergangenen Tagen wurden zudem mehrere Flughäfen wie Berlin, Brüssel, Dublin und London Heathrow durch Cyberangriffe lahmgelegt. Ziel der Hacker war der IT-Dienstleister Collins Aerospace. Die Hintergründe sind unklar, möglich ist aber ein Angriff Russlands.
«Sondierungsangriff auf die Schweiz»
In der «Sonntagszeitung» schliesst der ehemalige Luftwaffenchef Bernhard Müller nicht aus, dass auch die Schweiz bald ins Visier des Kremls geraten könnte – und zwar mit einem Luftschlag. Müller: «Die Gefahr besteht, dass Russland aus Distanz auch Sondierungsangriffe auf die Schweiz startet.»
Ein Sondierungsangriff ist ein militärischer Schlag, der nicht primär auf Zerstörung oder Eroberung zielt. Vielmehr wird damit getestet, wie der Gegner reagiert und wie gut seine Verteidigung aufgestellt ist. Und die ist in der Schweiz mangelhaft. Müller: «Wir sind weit davon weg, eine verteidigungsfähige Luftabwehr zu haben.»
Für internationale Experten ist Müllers Szenario kein Hirngespinst. Ihre Einschätzungen geben zu denken.
«Putin macht vor nichts halt»
Christoph Heusgen, Co-Chairman des St. Gallen Symposiums und Ex-Chef der Münchner Sicherheitskonferenz
«Ja, das Müller'sche Szenario ist nicht so unwahrscheinlich, wie viele Schweizer meinen. Auch am 23. Februar 2022 glaubten viele Ukrainer einschliesslich ihres Präsidenten nicht, dass Russland ihr Land überfallen würde. Putin macht vor nichts halt.
Wie ich schon an früherer Stelle im Blick gesagt habe: Das Konzept der Neutralität der Schweiz hat sich überlebt. Um nicht erpressbar zu werden, sollte sich die Schweiz dringendst Richtung Nato und EU begeben. Nur das bringt militärischen und wirtschaftlichen Schutz. Dazu gehört dann allerdings auch, dass die Schweiz ihre Militärausgaben erhöht.»
«Kein Verlass auf Nachbarn»
Ralph D. Thiele, Experte für Sicherheit und hybride Kriegsführung beim Institut für Strategie- Politik- Sicherheits- und Wirtschaftsberatung in Berlin
«Ein Angriff auf die Schweiz könnte eine von vielen Varianten sein, um den Widerstand des Westens anzutesten, ohne einen Nato-Bündnisfall zu riskieren. Ich gehe aber davon aus, dass eher Cyberattacken oder Sabotagen im Vordergrund stehen würden.
Wenn Putin wirklich ein Exempel per Luftschlag statuieren möchte, käme wohl am ehesten ein Angriff etwa mit einer Kinschal-Hyperschallrakete infrage, die von Kaliningrad abgefeuert würde.
Die Schweiz könnte sich nicht auf andere Staaten wie Polen oder Deutschland verlassen. Denn diese Länder sind selber zu wenig gerüstet. Die Schweiz muss sich selber schützen können und sich daher überlegen, ob sie sich einem Verbund wie dem Arrow-3-Raketenabwehrsystem anschliessen soll. Ein solcher Verbund ist für die Schweiz lebensrettend.»
«Theoretisch möglich»
Liviu Horovitz, Nato- und Nuklearexperte bei der Stiftung Wissenschaft und Politik Berlin
«Theoretisch ist das möglich, aber in der aktuellen Lage halte ich es für äusserst unwahrscheinlich. Russland testet die Nato – und insbesondere den US-Präsidenten – an der Ostflanke. Niemand weiss, was Putin im Schilde führt, aber nichts spricht dafür, dass die Schweiz im Fokus steht.»
«Kein wirksamer Schutz»
Marcel Berni, Dozent für Strategische Studien an der ETH-Militärakademie
«Bei einem Sondierungsangriff wird die Reaktion der Gegenseite geprüft. Mögliche Ziele wären wohl die Infrastruktur- und Verkehrsknotenpunkte sowie die Energieversorgung.
Die Schweiz verfügt momentan über keine Verteidigungssysteme gegen ballistische Raketen, Marschflugkörper oder Drohnen. Einen wirksamen Schutz vor Luftangriffen wird es frühestens ab 2028 geben, wenn der neue F-35-Kampfjet, das Patriot-System für grosse Reichweiten und Iris-T für mittlere Reichweiten einsatzbereit sind.
Ob ein gegnerischer Beschuss von benachbarten Ländern abgeschossen würde, ist von mehreren Faktoren abhängig. Eine Garantie dafür gibt es aber nicht.»