Darum gehts
- Fünf Geschwister kehren nach dreijährigem Zwangsaufenthalt in Russland in die Ukraine zurück
- Russische Behörden verschleppten seit Februar 2022 circa 20'000 ukrainische Kinder
- Tante Olga holte Geschwister im Sommer 2025 aus Moskau zurück
Die Luftabwehr meldet sich am frühen Morgen. Ein dumpfer Ton über den Feldern hinter der Siedlung Hansen in Tarasivka, einem Dorf ausserhalb von Kiew. In der Wohnung von Tante Olga Mukha (34) bleiben fünf Kinder liegen. Sie schlafen tagsüber, sind nachts wach. Weihnachten ändert daran nichts.
Diana (17), Dmytro (16), Katharina (15), Valentyn (14) und Snizhana (10) sind zurück in der Ukraine. Drei Jahre waren sie in Russland. Angekommen sind sie noch nicht.
An der Wand hinter dem Sofa hängt ein Schneemann aus Papier. Kein Weihnachtsbaum, keine Kerzen. Snizhana wacht als Erste auf. Ein zierliches Mädchen mit verstrubbeltem Haar. «Sie ist taff geworden», sagt Tante Olga, «lässt sich von niemandem etwas sagen».
Lehrerin entführte sie
Snizhana geht nicht mehr zur Schule. Genau wie ihre Geschwister, die nacheinander aus den Zimmern schlurfen. Sie setzen sich auf die Couch, stehen wieder auf, starren auf ihre Telefone. Bewegung ohne Ziel. Was soll man anfangen mit diesem Tag?
Die Kinder sind in Charkiw aufgewachsen. Kurz vor der Invasion 2022 verliert ihre Mutter das Sorgerecht. Sie kommen in ein Internat. Als die Russen angreifen, verschwindet der Direktor der Institution. Eine Lehrerin kümmerte sich um sie: Tetjana – eine Russin.
Sie nimmt die Kinder zu sich nach Hause ins besetzte Gebiet. Dann weiter nach Belgorod, Russland, zusammen mit ihrem Mann Vasyl. Sie kommen in ein Internat. «Die Lehrer haben uns verboten, Ukrainisch zu sprechen», erinnert sich Diana. «Also hörten wir auf.»
Kontaktverbot zu Familie
Selbst ihre Namen müssen sie auf Russisch übersetzen. Valentyn wird zu Walentin. Snizhana zu Snezhana. Es sei einfacher so, sagt man ihnen.
Der Unterricht beginnt jeden Morgen mit der russischen Hymne. Die Geschwister weigern sich, mitzusingen. Weniger aus politischem Bewusstsein, mehr aus kindlichem Trotz. «Vasyl liess uns nicht schlafen, bis wir den Text auswendig konnten», erzählt Dmytro.
Tetjana meldet die Geschwister als eigene Adoptivkinder bei den russischen Behörden. Sie ziehen um, in ein Haus. Dafür kassiert Tetjana Unterhaltsgelder. Sie verbietet ihnen den Kontakt zu den Verwandten in der Ukraine. Es sei besser so, meint Tetjana. Der Krieg dauere schon lange.
Ihr Alltag ist streng getaktet. Kein Platz für Wärme, Freude. «Nach der Schule mussten mein Bruder und ich Vasyls Ferienhaus umbauen. Beton giessen, solche Sachen», sagt Dmytro.
Die Mädchen helfen beim Putzen, Kochen. «Manchmal gaben sie uns sinnlose Aufgaben», erinnert sich Diana. «Zum Beispiel mussten wir das Gras im Garten von Hand auf eine bestimmte Länge abzupfen.»
20'000 entführte Kinder
Sie behält trotz Verbot Kontakt zu ihrem erwachsenen Bruder (18). «Er wollte uns abholen kommen, uns eine Wohnung in der Ukraine organisieren.» Doch dann stirbt er. Raketenangriff.
Zurück in die Wohnung ausserhalb von Kiew. Tante Olga schlägt vor, Fleischspiesse zu grillieren. Snizhana springt auf. Die anderen Geschwister nicken.
Draussen liegt Schnee. Eisiger Wind, gefühlt minus 10 Grad. Manche Kinder schlitteln. Die Luftabwehr ist verstummt. Olga fragt ihre Nachbarn nach einem Grill. Niemand hat einen.
Zwei Jahre leben die Kinder mit Tetjana und Vasyl in dem Haus in Russland. Davor waren sie ein Jahr im Internat. Diana, die Älteste, kämpft weiterhin für eine Rückkehr. Ukrainische Hilfsorganisationen hören davon. Ein monatelanger Prozess beginnt.
Denn Kinder wie sie gibt es viele. Laut ukrainischen Zahlen wurden seit Februar 2022 etwa 20'000 Minderjährige nach Russland verschleppt. Viele von ihnen waren Waisen, Pflegekinder. Oder lebten in armen Familien, nahe der Front. Russland versprach ihnen, die Kinder zur Erholung in Sicherheit zu bringen. Doch zurück kamen viele nie. Das zeigen Recherchen internationaler Organisationen.
Posieren mit katarischem Botschafter
Den Verwandten von Diana und ihren Geschwistern erzählten die russischen Behörden, die Kinder wollten nicht zurück. «Also machte ich ein Video, um unseren Wunsch zu bekräftigen», erzählt Diana. Ein Stein kommt ins Rollen.
Diesen Sommer bekommt Tante Olga die Erlaubnis, die Geschwister in Moskau abzuholen. Katar hatte bei den Verhandlungen geholfen. «Wir mussten mit dem katarischen Botschafter posieren», erinnert sich Snizhana. «Er hielt mich am Arm, das gefiel mir nicht.»
Sie kehren in die Ukraine zurück. Tante Olga nimmt sie auf. Sie hat zwei eigene Kinder – ebenfalls Teenager. Die Häuser in der Siedlung Hansen sind neu. Gebaut für Flüchtlingsfamilien aus der Ostukraine. Moderne Einrichtung, viel Platz.
Überlebenskampf geht weiter
Doch für Snizhana, Valentyn, Katharina, Dmytro und Diana weiterhin kein Zuhause. «Wir mussten allein für unser Überleben kämpfen», sagt Diana. «Müssen kämpfen» – denn der Krieg ist noch da.
Dmytro kennt eine öffentliche Feuerstelle im Nachbarsdorf. Snizhana kommt mit. Sie giesst Sprit über die Holzkohle, will selber anzünden. Die Flammen machen ihr keine Angst. «Ich habe bald Geburtstag», erzählt Snizhana. «An Silvester werde ich 11.»
In Russland habe sie nie ein Geschenk bekommen. Vielleicht dieses Jahr. Die Fleischspiesse sind erst halbgar, als sich leise ein Summen bemerkbar macht. Kamikaze-Drohnen. Die Kinder packen das Fleisch wieder ein. Und hoffen, dass der Strom im Haus wieder läuft. Damit Olga den Herd aufheizen kann.