Darum gehts
Marcus Keupp (48) bildet als Militärökonom angehende Berufsoffiziere an der Militärakademie an der ETH Zürich aus. Er glaubt, die Ukraine könne den Krieg noch immer gewinnen. Dazu fehlt nur eine entscheidende Sache.
Herr Keupp, im April sagten Sie, Russland verliere den Krieg, wenn es so weitergeht. Bleiben Sie dabei?
Marcus Keupp: Wenn die westliche Waffenhilfe weitergeht und Russland weiterhin so viel Personal und Material durchbrennt, dann ja. Russland lebt von seinen Reserven. Und diese Reserven gehen aus.
Was schaut bei den laufenden «Friedensgesprächen» realistischerweise raus?
Das sind keine Friedensgespräche, das ist eine russische Informationsoperation gegen die USA. Moskaus Ziel mit diesen Gesprächen ist es, die Trump-Administration mit pro-russischen Gedanken zu infiltrieren. Diese Technik hat Putin beim KGB gelernt und er wendet sie jetzt wieder an.
Mit Erfolg: Die USA drängen Kiew dazu, den Donbass an Moskau abzugeben.
Das wäre ein weiterer Schritt zur Selbstabschaffung der Ukraine. Wenn die Ukraine den Donbass abgäbe, gewänne Russland eine ideale Angriffsgrundstellung. Putin würde von dort aus irgendwann wieder militärisch angreifen, bis die Ukraine entweder ganz von der Landkarte verschwindet oder ein pro-russischer Satellitenstaat geworden ist.
Genau deshalb fordert die Ukraine wirksame Sicherheitsgarantien. Wie könnten die aussehen?
Ich sehe nur zwei Möglichkeiten: Entweder stationiert die Nato eigene Truppen in der Ukraine. Dann müsste Putin bei einem erneuten Angriff einen Krieg mit der ihm weit überlegenen Nato riskieren. Oder der Westen macht die Ukraine mit massiven Investitionen in Waffenfabriken zum hochgerüsteten Frontstaat. So ähnlich passierte das nach 1955 mit Westdeutschland.
Was würde das kosten?
Das weiss ich nicht. Klar ist: Für die europäische Rüstungsindustrie wäre das eine grosse Chance. Heute schon investieren Firmen wie Rheinmetall grosse Summen in die Ukraine.
Welchen konkreten Weg hin zu einem Waffenstillstand sehen Sie Stand heute?
Da sehe ich derzeit keinen. Putin wird nicht freiwillig aufhören. Russland würde erst über einen Waffenstillstand nachdenken, wenn es den Krieg nicht weiterführen könnte. Das ist derzeit nicht der Fall. Der Krieg wird auch 2026 weitergehen.
2025 hat Russland 0,77 Prozent der Ukraine eingenommen und dafür Hunderttausende Soldaten geopfert. 2026 will Putin die russischen Reservisten einberufen. Reicht das, um die Verluste auszugleichen?
In den ärmeren russischen Regionen (etwa Tuwa) liegt der Monatslohn bei durchschnittlich 200 Dollar. Als Soldat können sie das Zehn- bis Zwanzigfache dessen verdienen. Für viele arme Russen ist es finanziell noch immer sehr, sehr attraktiv, in den Krieg zu ziehen. Putin gehen nicht die willigen Kämpfer aus, aber zusehends das Geld, sie zu bezahlen. In mehreren Regionen wurden die Soldatenboni gekürzt, weil die Lokalregierungen auf dem Trockenen sitzen.
Putin kann ihnen aus seinem zentralen Budget einfach mehr Geld zuschanzen.
Nicht mehr lange. Der Nationale Wohlfahrtsfonds, der die russischen Renten und Sozialausgaben finanzieren sollte, wird bereits 2026 leer sein. Es gibt Möglichkeiten, das zu kompensieren. Sie können die Oligarchen zwingen, Staatsanleihen zu kaufen. Aber die Fantasie, Russland sei ein Märchenland mit unbegrenzten Ressourcen, fängt langsam an zu bröckeln.
Woran erkennen Sie das konkret?
Viele Lebensmittel sind um 100 bis 200 Prozent teurer als bei Kriegsbeginn. Zudem sind Millionen von Stellen in der zivilen Wirtschaft nicht besetzt, weil die Menschen fehlen. Wer verwundet oder gar nicht aus dem Krieg zurückkommt, kann nicht mehr arbeiten und auch keine Familie mehr gründen. Putin opfert sowohl die wirtschaftliche Zukunft als auch die Menschen des Landes für seinen Krieg. Er wettet darauf, dass er das länger durchhält als der Westen. Wenn das nicht funktioniert, wird Russland demografisch und technologisch weit zurückgeworfen ins 20. Jahrhundert.
Zeigen die Sanktionen endlich Wirkung?
Die tun Russland richtig weh, vor allem jene gegen die Öl-Giganten Rosneft und Lukoil. Dazu kommen die erfolgreichen ukrainischen Angriffe, die das Ölgeschäft zusätzlich belasten. 2026 haben wir wohl erneut eine Ölschwemme: Die Produktion in den Golfstaaten und den USA ist hoch, und der Ölpreis für die Sorte WTI liegt mittlerweile bei unter 60 US-Dollar. Für Moskau wird das rasch gefährlich.
Gibt es in Russland jemanden, der Putin politisch gefährlich werden könnte?
Seit das Flugzeug von Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin im Jahr 2023 abgeschossen wurde: niemanden mehr. Da sind nur noch Abnicker und Ja-Sager. Einer davon ist Putins Generalstabschef Waleri Gerassimov, der ihm immer wieder fälschlicherweise berichtet, diese oder jene Stadt sei von den Russen eingenommen worden.
Zum Beispiel Kupiansk. Selenski hat diese Lüge offengelegt, indem er Mitte Dezember hingereist ist und ein Selfie-Video aufgezeichnet hat.
Das war eindrücklich. Kurz darauf haben die Ukrainer zum ersten Mal ein russisches U-Boot versenkt, mit der neuen Meeresdrohne Sea Baby. Und das ausgerechnet im Hafen von Noworossijsk, dem grössten russischen Ölhafen, von dem ein Grossteil der Ölexporte nach China und Indien abgeht. Dass dieser strategisch wichtige Hafen nicht besser abgesichert ist, ist schon überraschend.
Sehen Sie neben Sea Baby andere auffällige Waffen-Erfindungen in der Ukraine?
Den Marschflugkörper Flamingo. Der ist keine eigentliche Neuentwicklung, aber ein Beispiel dafür, was entstehen kann, wenn alte sowjetische Systeme mit moderner Technologie kombiniert werden. Da ist sozusagen das Beste aus Ost und West in einer Waffe vereint.
Sehen Sie auf der russischen Seite neue Waffen, die Ihnen Angst machen?
Auch Russland investiert massiv in die Entwicklung von Drohnen. Aber wirkliche Durchbrüche oder Wunderwaffen sehe ich keine. Im Gegenteil. Auf Videos sehen sie, wie russische Soldaten mit Motorrädern und teils mit Pferden und Eseln an der Front unterwegs sind. Moskau holt Relikte aus dem 20. Jahrhundert zurück aufs moderne Schlachtfeld, weil ihm andere Mittel fehlen.
Kann die Ukraine die Russen aus den besetzten Gebieten zurückdrängen?
Aus eigener Kraft nicht. Wenn der Westen seine Unterstützung aber intensiviert und Russland weiterhin mit so hohen Abnutzungsraten bei Mensch und Material zu kämpfen hat, dann kann die Ukraine das im besten Fall schaffen. Der Westen hätte die Mittel dazu. Was fehlt, ist der Wille.
Experten rechnen damit, dass Russland 2028 ein nächstes europäisches Land angreifen könnte. Wen triffts?
Russlands Krieg gegen uns ist bereits im vollen Gang. Man muss schon sehr tief schlafen, um das nicht zu merken. Die Sabotage von Gasleitungen und Datenkabeln in der Ostsee, die Drohnen über europäischen Flughäfen, die unzähligen Propagandaaktionen: All das sind Mittel im hybriden Krieg, den Moskau gegen uns führt. Das Einzige, was derzeit noch fehlt, sind mechanisierte Mittel: Panzer und dergleichen.
Ihre Prognose: Wo steht der Ukraine-Krieg in einem Jahr?
Für Russland ist Krieg besser als Frieden. Krieg ist heute der Motor, der das Riesenreich innerlich zusammenhält. Für das putinistische Russland gilt der Satz: Krieg ist Frieden. Selbst wenn dieser Krieg nicht mehr mechanisiert stattfindet oder wenn es irgendeine brüchige Waffenstillstandslinie geben würde, hiesse das nicht, dass Russland auch nur einen Millimeter von seinen imperialen Ambitionen abrückt.
Dieses Jahr ist Marcus Keupps neues Buch «Spurwechsel – die Welt nach Russlands Krieg» im Quadriga Verlag erschienen.