Riskanter Weihnachtsdeal
Hier liegt die versteckte Gefahr im neuen Ukraine-Vorschlag

Sicherheitsgarantien wie bei der Nato: Viel mehr kann Europa der Ukraine im Moment gar nicht anbieten. Selbst wenn die offenen Fragen geklärt und Moskaus Zustimmung gegeben wären: Der Deal ist für Kiew riskant. Die wichtigsten Fragen und Antworten.
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Erst vor wenigen Tagen wagte sich Selenski selbst an die Front bei Kupiansk, um zu beweisen, dass die Stadt nicht (wie von Putin behauptet) von den Russen eingenommen worden ist.
Foto: AFP

Darum gehts

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Samuel SchumacherAusland-Reporter

Kiew bekommt ein vorweihnachtliches Schnäppchen. Die beiliegende Grusskarte: unterzeichnet von den Amerikanern und den wichtigsten europäischen Staatslenkern. Nur Russlands Signatur fehlt noch. Dann aber wäre der Deal, den die Amis gemeinsam mit den Ukrainern und den Europäern Anfang Woche in Berlin ausgearbeitet haben, tatsächlich ziemlich heiss.

Falls die Ukraine sich bis Weihnachten zu einer Zusage durchringen kann, soll sie Sicherheitsgarantien «ähnlich dem Nato-Artikel 5» erhalten. Sprich: Ein Angriff auf die Ukraine würde von den unterzeichnenden Staaten als Angriff auf alle erachtet und entsprechend geahndet werden. Das würde die Situation im Kriegsland schlagartig verändern.

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Welche Sicherheitsgarantien soll die Ukraine erhalten?

Die europäischen Schwergewichte (darunter Deutschland, Frankreich, Grossbritannien und Italien) versichern Kiew, dass sie die Ukraine mit einer internationalen Sondertruppe bei der Überwachung des Luftraums und der Sicherung ihrer Meereshäfen unterstützen – auch auf ukrainischem Boden. Die USA würden den Waffenstillstand mit den Russen überwachen. 

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Tee gabs im Berliner Kanzleramt für Wolodimir Selenski (r.) – und handfeste Sicherheitsgarantien von Friedrich Merz.
Foto: IMAGO/dts Nachrichtenagentur

Sobald Moskau erneut angriffe, würden die Vertragspartner der Ukraine zu Hilfe eilen: ökonomisch, diplomatisch – und militärisch. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski (47) teilte mit: «Die Details sehen sehr gut aus, auch wenn das nur ein erster Entwurf ist.»

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Garantien «ähnlich dem Nato-Artikel 5» – was heisst das?

Bundeskanzler Friedrich Merz (70) verglich die Sicherheitsgarantien mit dem Nato-Artikel 5. Der Artikel hält fest, dass ein Angriff auf ein Nato-Land als Angriff auf alle Nato-Länder gewertet wird. Jedes Nato-Land müsste im Ernstfall erwägen, welche Massnahmen man «für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets zu erhalten».

Experten bezweifeln, dass der Artikel 5 in jedem Fall zu einer militärischen Antwort der gesamten Nato führen würde. Marcus Keupp (48), Militärökonom an der Militärakademie an der ETH Zürich, sagte jüngst zu Blick: «Glauben Sie ja nicht, dieser Artikel 5 bedeute, dass sofort die ganze Nato zurückschiesst, wenn ein Mitgliedsland angegriffen wird.» Der Artikel besage lediglich, dass jedes Mitgliedsland das Recht habe, den angegriffenen Staat zu unterstützen. «Wie diese Unterstützung konkret aussieht, steht nicht im Artikel.»

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Warum bietet man der Ukraine keinen Nato-Beitritt an?

Die Ukraine will in die Nato. Russland will das unter allen Umständen verhindern. Dass man der Ukraine die Aufnahme in das mächtige Verteidigungsbündnis verwehrt, liegt aber nicht am Mitleid mit den Russen. Der Nato-Aufnahmeprozess wäre schlicht zu kompliziert (alle Mitgliedsländer müssten zustimmen), um ihn in nützlicher Frist abrollen zu können.

Zudem müsste die Ukraine für die Aufnahme in den Bund zahlreiche Umstellungen etwa in ihren Waffensystemen und ihrer Kommandostruktur umsetzen. Und: Sie müsste im Ernstfall theoretisch auch anderen Nato-Staaten zu Hilfe eilen. Beides ist auf absehbare Zeit nicht umsetzbar.

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Was könnte die Ukraine an der Unterschrift hindern?

Abgesehen von den noch immer ungelösten Fragen rund um mögliche Gebietsabtretungen an die Russen vor allem das Trauma, das die Ukraine vom «Budapester Memorandum» 1994 davongetragen hat. Damals gab die Ukraine ihr Atomwaffenarsenal an Russland ab – im Austausch gegen Sicherheitsgarantien der Amerikaner, der Briten und der Russen. Die verpflichteten sich, die Souveränität der Ukraine zu anerkennen, keine Gewalt gegen das Land anzuwenden und sofort zu Hilfe zu eilen, sollte Kiew je attackiert werden. Was diese Sicherheitsgarantien wert waren, wissen wir allerspätestens seit dem 24. Februar 2022.

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Wie könnte Russland die Sicherheitsgarantien missbrauchen?

Moskau gibt sich bedeckt bezüglich des Vorschlags. Klar aber ist: Die westeuropäische Gesellschaft ist tief gespalten mit Blick auf den Krieg und noch gespaltener bezüglich der Idee, die eigenen Söhne und Töchter zur Sicherung des instabilen Friedens in die Ukraine zu schicken. Wladimir Putin (73) weiss das. Mit einer militärischen Provokation nach einem Friedensschluss könnte er den Verteidigungswillen der «Koalition der Willigen» testen und den innereuropäischen Zusammenhalt weiter schwächen.

Wären die Staatslenker wirklich bereit, für einen erneuten Vorstoss im Donbass den grossen Krieg mit der Nuklearmacht Russland zu riskieren? Massenproteste gegen einen entsprechenden Militäreinsatz wären vorprogrammiert. Die Gewalt könnte erneut eskalieren. Genau hier liegt die versteckte Gefahr der versprochenen Sicherheitsgarantien.

Fazit: Ohne die Lösung der schwierigen Territorialfragen bleibt die Diskussion über die Sicherheitsgarantien eine rein theoretische. In der Diplomatie gilt: Nichts gilt, bis alles gilt. Die USA können noch so sehr auf Weihnachten als Deadline pushen, die Europäer können noch so bemüht und die Ukrainer noch so offen sein für Verhandlungen: Solange Moskau nicht zustimmt, führen auch diese vielversprechenden Schritte direkt ins Nirgendwo.

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