Darum gehts
- Wegen besseren Ausbildungsmöglichkeiten und Jobs zieht es immer mehr Junge in die Deutschschweiz
- Trotz schrumpfender Bevölkerung wird im Tessin weiter viel gebaut, die Leerstände sind vergleichsweise hoch
- Steuererleichterungen für Reiche sind eine Lösungsmöglichkeit, spalten aber die Gemüter
Das Tessin heisst im Volksmund nicht umsonst Sonnenstube: lange, heisse Sommer, traumhaftes Wetter, italienischer Charme kombiniert mit Schweizer Lebensqualität. Der Südschweizer Kanton ist ein wahres Ferienparadies. Aber nicht nur: Auch der Wohnraum ist überraschend günstig, wie die jüngsten Zahlen des Swiss Real Estate Instituts zeigen.
Im Vergleich zum Vorjahr zahlen Tessinerinnen und Tessiner 5,6 Prozent weniger Miete, durchschnittlich 1685 Franken im Monat, wie auch die «NZZ» berichtet. Zum Vergleich: Mietwohnungen landesweit sind im Schnitt um 2,4 Prozent teurer geworden. Auch die Preise für Eigentumswohnungen und Einfamilienhäuser liegen im Tessin tiefer als der Schweizer Schnitt. Und mit einer Leerstandsziffer von 1,9 Prozent gibt es vergleichsweise viele freie Bleiben.
Das Tessin hat mit starker Abwanderung zu kämpfen. Besonders Junge zwischen 18 und 35 Jahren verlassen ihren Heimatkanton. In den grossen Städten Lugano und Bellinzona stagniert die Wohnbevölkerung. In allen anderen Schweizer Städten nimmt sie zu.
«Wer in der Deutschschweiz Fuss fasst, kommt nicht so schnell zurück»
Der Luganeser SVP-Stadtrat Marco Chiesa (50) hat dafür klare Worte. «Es ist ein besorgniserregendes Phänomen», sagt der Vollblut-Tessiner zu Blick. Und doch habe er Verständnis: Die Deutschschweiz biete mehr Ausbildungsmöglichkeiten und Karrierechancen. Chiesa: «Wer dort einmal Fuss gefasst hat, kehrt nicht so schnell zurück.»
Oder wie es der Tessiner SP-Nationalrat Bruno Storni (71) ausdrückt: «Die Löhne im Tessin sind ungenügend. Sie sind deutlich tiefer als im Rest der Schweiz», sagt er. «Wenn ich die Option habe, im selben Beruf in Zürich 7000 Franken im Monat zu verdienen und im Tessin 4000 Franken, ist die Entscheidung klar.» Ausserdem habe man mittlerweile mehrere Möglichkeiten, die familiären oder freundschaftlichen Verbindungen im Tessin aufrechtzuerhalten. Sei es dank Internet, den sozialen Medien oder den guten ÖV-Anschlüssen.
Was also ist zu tun, damit der Wind im Süden dreht? Ein Experte des Swiss Real Estate Instituts plädiert gegenüber der «NZZ» für Steuererleichterungen für Wohlbetuchte und Pensionierte – um den Standort Tessin für Zuzügler attraktiver zu machen. Ähnlich wie es der Kanton Schwyz bereits kennt. Chiesa ist überzeugt, dass das helfen kann. Aber: «Es ist nicht die rettende Lösung», so der SVP-Politiker. «Der Wettbewerb um Reiche ist in der ganzen Schweiz sehr stark. Wir müssen auch mehr Firmen und qualifizierte Schweizer Arbeitskräfte anziehen. Das zu schaffen, ist eine strukturelle Herausforderung.»
«Noch mehr steuerliche Anreize sind ineffizient»
Dass es sich dabei um ein strukturelles Problem handelt, findet auch Nationalrat Storni. Doch der SP-Mann ist der Auffassung, dass noch mehr steuerliche Anreize ineffizient seien. «Dann verkauft man allenfalls mehr Villen für Reiche», sagt er. «Das heisst aber noch lange nicht, dass diese Zuzüge den Tessiner Arbeitsmarkt verbessern.»
Ausserdem bestehe im Tessin im Vergleich zu anderen Grenzkantonen nach wie vor die Pauschalbesteuerung – ein spezielles Steuerregime für wohlhabende Ausländer, die in der Schweiz leben, aber hier nicht erwerbstätig sind. «Die rund 800 Pauschalbesteuerten im Tessin brachten 2022 insgesamt 183 Millionen Franken Steuern ein.»
Die Zahlen würden für sich sprechen, so Storni. «Neben Pauschalbesteuerung hat man auch stetig Steuern auf grosse Vermögen gesenkt. Und man sieht ja, dass es nicht viel bringt.» Am Schluss verteuere ein steigendes Angebot von Luxusbauten gar noch den gesamten Tessiner Wohnungsmarkt. Damit würde sich das Tessin in die vielen Schweizer Kantone einreihen, in denen bezahlbarer Wohnraum ein immer rareres Gut wird.