Darum gehts
Ihr Fortgehen war im Frühjahr 2024 eine herbe Niederlage für den Schweizer Tennisverband. Just als Lulu Sun (24) im Begriff war, in der Tennis-Weltelite Tritt zu fassen, wanderte sie Richtung Neuseeland ab. Kurz nachdem sie an den Australian Open ihre Grand-Slam-Premiere gefeiert hatte, gab sie dem Buhlen ihres Geburtslandes nach. Dem Vernehmen nach hatte der neuseeländische Verband ein Angebot unterbreitet, das sie nicht ablehnen konnte. Ein Stammplatz im «Billie Jean King Cup»-Team, ein Olympia-Ticket für Paris und deutlich mehr Vermarktungspotenzial aufgrund weniger nationaler Konkurrenz waren ziemlich gute Argumente. Zudem sollen auch die finanziellen Rahmenbedingungen gestimmt haben.
Die Schweiz guckte in die Röhre, verabschiedete Sun aber mit Stil. Alessandro Greco, Leiter Spitzensport bei Swiss Tennis, führte ins Feld, beim Nationenwechsel sei alles «transparent und korrekt» abgelaufen. Sun hatte überdies frühere Fördergelder wieder an den Verband zurückgezahlt.
Doppelt bitter aus eidgenössischer Sicht: Kaum war Sun weg, startete sie durch. Mittlerweile ist sie die Nummer 46 der Welt. Und im Vorjahr verblüffte sie die Szene mit ihrem sensationellen Viertelfinaleinzug in Wimbledon, als sie unter anderem Qinwen Zheng (22) und Emma Raducanu (22) eliminierte. Sun wäre heute hinter Belinda Bencic (28, WTA 37) die zweitbeste Schweizerin. Nun aber verzückt sie die neuseeländischen Fans.
«Trage die Schweiz weiterhin in meinem Herzen»
«Das heisst allerdings nicht, dass ich mich nicht weiterhin mit der Schweiz verbunden fühle», betont Sun, als Blick sie in Wimbledon zum Gespräch trifft. Der Genferin mit multikulturellem Hintergrund – ihre Mutter ist Chinesin, ihr Vater Kroate – ist es ein Anliegen, immer wieder darauf hinzuweisen, wie dankbar sie der Schweiz für den gemeinsamen Weg in jungen Jahren war. Sun hatte die ersten fünf Jahre ihres Lebens in Neuseeland gelebt, zog dann nach Florida, um schliesslich mit acht Jahren zwecks einer guten Schulbildung an den Genfersee überzusiedeln. Ihr Bruder lebe nach wie vor in der Schweiz, sagt sie: «Und ich versuche, so oft wie möglich dort zu sein.»
Sun erklärt, der Wechsel sei eine sehr emotionale und schwierige Entscheidung gewesen. Ihr Vergleich: «Es war, wie wenn man zwischen seinen Lieblingsdesserts entscheiden muss.»
Rückblickend hat Sun aus sportlicher Sicht alles richtig gemacht. Sie feierte tatsächlich ihre Olympia-Premiere in Paris, auch wenn sie direkt in der ersten Runde rausflog. Und sie etablierte sich auf der WTA-Tour, etwa, indem sie in Monterrey (Mex) in den Final des dortigen WTA-500-Turniers einzog. Heuer tut sie sich etwas schwerer, ihre guten Resultate zu bestätigen, kann nun in Wimbledon aber mit dem Wissen aufspielen, hier schon einmal richtig abgeliefert zu haben.
Rockt sie das Rasenturnier erneut (Auftaktpartie gegen die Tschechin Marie Bouzkova am Montag), würde sie das nicht nur als Neuseeländerin tun, meint sie: «Ich trage die Schweiz weiterhin in meinem Herzen – beide Länder sind Teil von mir.»