Darum gehts
Diese Treichel ist anders. Sie hängt nicht um den Hals einer Kuh, sondern im Kraftraum – direkt neben der Hantelbank von Eidgenosse Roger Rychen (33). «Am Schwingfest, als ich die auswählte, sah ich meinen Bruder zum letzten Mal», erzählt der 70-fache Kranzgewinner. Für den Glarner ist sie mehr als nur eine Gabe – sie ist eine Erinnerung und ein grosser Antrieb.
Denn Rychen steht kurz vor dem bisher grössten Moment seiner Karriere. Ende August findet das Eidgenössische Schwing- und Älplerfest (ESAF) in Mollis GL statt. Als Glarner Aushängeschild ruhen die Hoffnungen der einheimischen Schwing-Fans auf ihm. «Klar spüre ich den Druck – aber genau den brauche ich. Ich liefere am besten, wenn es zählt.» Sein Ziel ist der Gewinn des vierten Eidgenössischen Kranzes.
Schwierige Zeit als Jungschwinger
Dass er dereinst zu den besten Schwingern des Landes gehören würde, hätte ihm als Teenager niemand zugetraut. Erst mit 14 Jahren fand Rychen durch einen Kollegen zum Nationalsport. «Regelmässig verlor ich die ersten vier Kämpfe und musste frühzeitig unter die Dusche. Das tat richtig weh.»
Da er seinen Gegnern körperlich unterlegen war, entwickelte Rychen eine überdurchschnittlich gute Technik. «Nur so hatte ich die Chance, wenigstens einen Gang zu gewinnen.» Mit der Zeit machten sich die vorteilhaften Gene seines Vaters bemerkbar. Dieser hatte mit 1,90 Metern und 112 Kilo eine perfekte Schwinger-Postur.
Vater kämpfte für die Berner
Jakob Rychen erkämpfte sich zwei Kränze. 1986 durfte er am Eidgenössischen Schwingfest in Sion VS teilnehmen – für die Berner. Erst später zog es ihn in die Nordostschweiz. Er nahm eine Stelle als Knecht bei den Eltern von Rychens Mutter an. Die Liebe liess ihn im Glarnerland bleiben.
Hoch ob Mollis konnte er einen Bauernhof übernehmen. Auf welchem Rychen mit seinen zwei älteren Brüdern aufgewachsen ist. «Wir mussten sehr viel mithelfen. Auch an den Wochenenden wurde gearbeitet», erinnert sich der Maschinist. Neben der Arbeit auf dem Hof verband die Geschwister der Schwingsport.
Jeweils zu dritt reisten sie zu den Wettkämpfen. «Ich denke gerne daran zurück. Wir konnten uns gegenseitig unterstützen.» Nichts wünscht sich Rychen mehr, als dass es noch immer so wäre. Doch 2013 wurde er für immer von seinem ältesten Bruder Ueli getrennt. «Er hätte Ähnliches erreichen können wie ich», ist sich der Kranzfestsieger sicher.
Die Treichel in seinem Kraftraum erinnert ihn an die letzte gemeinsame Begegnung am Abend des Glarner-Bündner. «Wenn jemand eine neue Bestmarke aufstellt, muss er sie läuten. Das ist eine grosse Ehre», so Rychen. In der Woche nach diesem Schwingfest nahm sich Ueli das Leben. «Von aussen glaubten wir, dass es ihm gut ging.»
Zuschauer verwechselte ihn mit totem Bruder
Vorwürfe macht sich Rychen keine. «Eine solche Tat kann man leider nicht verhindern.» Während er über den «schlimmsten Moment seines Lebens» spricht, wirkt Rychen ruhig. Nur einmal schüttelt der Familienvater den Kopf. «Im Rückblick staune ich darüber, dass ich nur wenige Tage nach diesem Schicksalsschlag ein Schwingfest bestreiten konnte.»
Rychen nahm am St. Galler Kantonalen teil. Dass er antrat, überraschte auch die Verantwortlichen. Am Appell hiess es, dass Rychen fehle. «Als ich intervenierte, sahen mich alle mit grossen Augen an.» Der Todesfall in seiner Familie machte bereits die Runde in der kleinen Schwinger-Szene. «Zu Beginn hatte ich das Gefühl, ich sei nur noch der Bruder von dem, der sich das Leben genommen hat.»
Richtig unangenehm wurde es am St. Galler Kantonalen, als ihn ein Zuschauer verwechselte. «Plötzlich rief jemand: ‹Hallo Ueli›.» Obwohl er sich sofort entschuldigte, wähnte sich Rychen im falschen Film. Verstärkt wurde dieses Gefühl durch den Blick auf seine Schuhe.
Ein Hilferuf in Richtung Himmel
Weil er sein Paar am letzten Schwingfest vergessen hatte, kämpfte Rychen in den Schuhen seines verstorbenen Bruders. «Immer, wenn ich nach unten sah, kamen mir fast die Tränen. Ich fragte mich, was ich hier genau mache.»
Nach vier Niederlagen war der Wettkampf für ihn vorbei. «Ich war total am Anschlag und überfordert mit allem.» Trotzdem sei es richtig gewesen, dort teilzunehmen. «Ueli hätte das gewollt. Und es half mir beim Verarbeitungsprozess.» Obwohl Rychen sogleich anfügt: «Richtig verarbeiten kann man so etwas nie.»
Auch zwölf Jahre später denkt Rychen noch regelmässig an seinen geliebten Bruder. Besonders in schwierigen Momenten wie in diesem Frühling. Rychen verletzte sich und verpasste deshalb die erste Hälfte der Kranzfestsaison. «Da bitte ich ihn jeweils um Hilfe. Ueli gibt mir noch immer sehr viel Kraft.»
Grosser Druck beim Comeback
Energie holt sich Rychen auch bei der Familie. Seine Frau lernte er kurz vor dem Schicksalsschlag kennen. «Sie war in dieser Zeit unheimlich wichtig für mich – und ist es bis heute.» Mittlerweile hat sie ihm zwei Töchter geschenkt.
Wie viele andere Glarner werden auch sie am Sonntag gespannt nach St. Gallen blicken. Beim Nordostschweizer Teilverbandsfest feiert Rychen sein Comeback. Da er noch ohne Kranzgewinn dasteht, braucht er unbedingt ein gutes Resultat. Denn auch der Lokalmatador muss sich auf sportlichem Weg für das ESAF qualifizieren. Ende August in Mollis ist dann alles möglich. Schliesslich hat Rychen schon viel grössere Herausforderungen auf beeindruckende Art und Weise gemeistert.
Diese Stellen sind rund um die Uhr für Menschen in suizidalen Krisen und für ihr Umfeld da:
- Beratungstelefon der Dargebotenen Hand: Telefon 143 www.143.ch
- Beratungstelefon von Pro Juventute (für Kinder und Jugendliche): Telefon 147 www.147.ch
- Weitere Adressen und Informationen: www.reden-kann-retten.ch
Adressen für Menschen, die jemanden durch Suizid verloren haben
- Refugium – Verein für Hinterbliebene nach Suizid: www.verein-refugium.ch
- Nebelmeer – Perspektiven nach dem Suizid eines Elternteils: www.nebelmeer.net
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- Refugium – Verein für Hinterbliebene nach Suizid: www.verein-refugium.ch
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