«Ich war eine lebendige Leiche»
Schwinger packt über brutales Bodybuilder-Leben aus

Florian Ulrich gehört zu den grössten Favoriten-Schrecks im Schwingen. Früher begeisterte er mit seinen Muskeln auf der Bühne. Heute ist er einer der wenigen, die über die Schattenseiten des Bodybuildings sprechen.
Publiziert: 11:57 Uhr
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Aktualisiert: 12:10 Uhr
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Kaum ein Gramm Fett: Florian Ulrich glänzte an der Schweizer Meisterschaft der Bodybuilder 2021 mit dem vierten Platz.
Foto: zVg

Darum gehts

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Nicola AbtReporter Sport

Früher trat Florian Ulrich (35) ausgehungert und dehydriert auf die Bodybuilding-Bühne. Heute wiegt er rund 25 Kilo mehr und spielt eine gewichtige Rolle im Kampf um den Schwingerkönigstitel. Der Polizist gehört zu den engsten Vertrauten des dreifachen Eidgenossen Pirmin Reichmuth (29).

Jeden Montag- und Freitagabend stemmen die beiden Gewichte im Fitnesscenter von Ulrich in Steinen SZ. «Kräftemässig kann ich einigermassen mit Pirmin mithalten», meint Ulrich schmunzelnd. Deutlich grösser ist der Unterschied im Sägemehl. Während Reichmuth zu den Königsanwärtern gehört, schlüpft Ulrich in die Rolle des Spielverderbers.

Florian Ulrich spricht über sein altes Leben
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Vom Bodybuilder zum Schwinger:Florian Ulrich spricht über sein altes Leben

Der 1,80 Meter grosse Schwyzer ist ein Defensivkünstler. Letztes Jahr brachte er den Saisondominator Fabian Staudenmann an den Rand eines Gestellten. Am Eidgenössischen Schwingfest Ende August in Mollis GL könnte er für einige Favoriten zum Problem werden. Und damit Freund Reichmuth den Weg zum Königstitel ebnen. 

Entweder richtig – oder gar nicht

Dafür musste er Masse zulegen – als Bodybuilder wog er 83 Kilo. Zu wenig für den Sägemehl-Sport. Den er bereits seit seiner Kindheit ausgeübt hat. 2011 gewann Ulrich den ersten von bisher neun Kränzen. Dann zwangen ihn die unregelmässigen Arbeitszeiten als Polizist zu einer Schwing-Pause.

«Wenn ich etwas mache, dann richtig. Alles andere lässt mein Ehrgeiz nicht zu.» Was ihm blieb, war das Krafttraining. Durch Youtube-Videos fand er zum Bodybuilding. Fünf bis sechsmal in der Woche stemmte er Gewichte. «In den ersten Jahren siehst du brutale Fortschritte. Das motiviert sehr.» 

Highlight an der Schweizermeisterschaft

Schliesslich wollte er an einem Wettkampf teilzunehmen. Durch Zufall entstand die Zusammenarbeit mit einem erfahrenen Bodybuilder aus dem Muotathal. Von da an investierte der Schwarzenegger-Fan fast jede freie Sekunde in seinen Körper. «Ich habe mir für mehrere Tage Essen vorgekocht und genau abgewogen. Ich überliess nichts dem Zufall.» 

Bei seinem ersten Wettkampf 2017 wurde er Fünfter. Als Highlight bezeichnet Ulrich den vierten Platz bei der Schweizermeisterschaft 2021. Für viele Bodybuilder wäre die Geschichte hier zu Ende. Nicht so für Ulrich. Denn er spricht auch über die Schattenseiten dieses Sports. «Leider tun das viel zu wenig.» 

Hunger – den ganzen Tag

Besonders viel Disziplin erfordert die Wettkampfvorbereitung. Diese besteht aus zwei Phasen. «Während des Aufbaus verleidet dir das Essen. Irgendwann machst du es nur noch, weil du musst.» Um die Muskeln wachsen zu lassen, benötigt der Körper unzählige Kalorien und Proteine. «Du schaufelst alles in dich hinein – auch wenn du bereits satt bist.» 

Rund sieben Monate vor dem Wettkampf beginnt die Diät. Das Fett soll verschwinden, die Muskeln sichtbar werden. Anfangs wohltuend, bald quälend. Jede Mahlzeit wird abgewogen. Ein permanentes Hungergefühl begleitet einem durch den Alltag.

Brusttraining gegen die Müdigkeit

«In dieser Phase entwickelt man eine Essstörung. Ich hatte kein Sättigungsgefühl mehr.» Auch die Energie liess nach. «Jeder Tag ist eine Art Überlebenskampf. Auch, weil die Schlafqualität rasant abnimmt. In dieser Zeit bist du eine lebendige Leiche.» 

Ulrich kämpft gegen die Müdigkeit an. Schliesslich trägt er als Polizist eine grosse Verantwortung. «Entscheidend ist der Kopf. Ich fokussierte mich auf das Schöne. Zum Beispiel das Brusttraining – das gab mir Energie.»

Tag X – und was nun?

Kurz vor dem Wettkampf trank er fast nichts mehr. «Am letzten Tag noch drei Deziliter Wasser.» Ohne Flüssigkeit wirkt der Körper muskulöser. Was bei der Jury zu einer höheren Punktzahl führt. Auf der Bühne presst Ulrich noch die letzte Flüssigkeit aus seinem Körper heraus.

Die Posen verlangen ihm alles ab. «Teilweise verliert man während eines Wettkampfs einen Liter Schweiss.» Dann ist es vorbei. Und jetzt: Wie weiter? Die Diät durchziehen oder endlich wieder richtig zuschlagen?

Am besten wäre ein Mittelweg. Ulrich hat genau das versucht – und ist gescheitert. «Irgendwann fängst du wieder an, dir etwas zu gönnen. Das ist der Anfang vom Ende. Du fällst in ein Loch. Ohne Sättigungsgefühl isst du, bis dir der Bauch schmerzt.»

Zurück im Schwingsport

Dann bleiben einem zwei Möglichkeiten: «Entweder du stehst es durch – oder du erbrichst. Ich habe mich ein paar Mal für Letzteres entschieden.» Innerhalb einer Woche nahm er zehn Kilo zu. Vieles davon war Flüssigkeit. Das Sättigungsgefühl kehrte erst nach mehreren Monaten zurück. 

Diese Tortur habe sich aber insgesamt gelohnt, findet Ulrich. «Du entwickelst eine gewaltige Disziplin. Zudem gefällt mir ein derart definierter Körper.» Mittlerweile ist er wieder ein gutes Stück davon entfernt. Seit er bei der Polizei als Gruppenleiter arbeitet und die Arbeitspläne mitbestimmen kann, ist Ulrich zurück im Sägemehl. Sein Kampfgewicht liegt nun bei über 100 Kilo. 

Stolpert König Wicki über Ulrich?

Mit den Leistungen bei seinem Comeback im letzten Jahr überraschte er sich selbst. Ulrich konnte drei Kränze gewinnen. Am vergangenen Wochenende sicherte er sich am Zuger Kantonalen ebenfalls das Eichenlaub.

Dasselbe strebt er am Sonntag am Schwyzer Kantonalen an. Dort tritt er zusammen mit seinem Freund Reichmuth an. Ihnen gegenüber steht Schwingerkönig Joel Wicki. Gut möglich, dass Ulrich die Chance erhält, den Topfavoriten auszubremsen. Ob ihm das gelingt? 

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