Darum gehts
- Schwinger Marco Reichmuth gewinnt Kranzfest nach Burnout
- Er kämpfte mit Erschöpfung, fehlender Energie und grossem Frust
- Wichtige Bezugspersonen waren seine Freundin und sein Athletiktrainer
Schwinger Marco Reichmuth (27) kniet im Sägemehl und weint. Ein Bubentraum ist in Erfüllung gegangen. Seit letztem Sonntag darf er sich Kranzfestsieger nennen. Ein Erfolg, der beim Blick in seine Vergangenheit weit über die sechs gewonnenen Kämpfe hinausgeht. «Ich glaubte zeitweise nicht mehr, dass ich je wieder schwingen werde», erklärt er drei Tage später.
Blick trifft ihn am Mittwochmorgen in der Trainingshalle seines Freundes und Athletiktrainers Tommy Herzog. Seit zehn Jahren arbeiten die beiden zusammen. «Heute machen wir Bewegungstherapie. Alles andere bringt nichts», sagt Herzog. Er sieht seinem Schützling die Strapazen der letzten Tage an.
Der Sensationssieg am Zuger Kantonalen katapultierte den Bruder von Königskandidat Pirmin Reichmuth ins Rampenlicht. «Es ist unglaublich, was im Moment passiert. Fremde Menschen erkennen mich auf der Strasse und gratulieren mir. Mein Handy explodiert fast.» Die Nachrichtenflut von heute steht im krassen Gegensatz zur Stille, die ihn vor etwas mehr als zwei Jahren umgab.
Je länger, desto mehr Frust
«Ich war ausgebrannt. Leer. Nichts ging mehr», sagt der 26-fache Kranzgewinner. Für einen Moment verschwindet das Lächeln aus seinem Gesicht. Bemerkenswert offen spricht der Zuger über die schwierigste Phase seines Lebens. Monatelang fühlte sich Reichmuth erschöpft, müde, ohne Antrieb. «Mit fehlte die Energie, um am Morgen aufzustehen. Mein Körper streikte. Ich war nicht mehr ich selber.»
Je länger diese Phase dauerte, desto grösser wurde der Frust. Reichmuth erholte sich schlecht und musste reihenweise Trainings absagen. «Das war das Schlimmste. Ich wollte Gas geben, konnte aber nicht.»
Ein Gespräch brachte Klarheit
Reichmuth zog die Handbremse. Fertig Schwingen. «Er musste zuerst sein Leben wieder in den Griff bekommen», erklärt Herzog. Die Ärzte schickten Reichmuth von Untersuchung zu Untersuchung. Blutwerte, Herz, Lunge – alles wurde getestet. Eine genaue Diagnose konnten sie ihm jedoch nicht stellen. «Ich dachte lange, es sei Long Covid», so der Schwinger.
Erst eines der vielen tiefgründigen Gespräche mit Herzog brachte Klarheit. Der ehemalige Bobfahrer erkannte die Symptome – aus eigener Erfahrung. Reichmuth litt an einem Burnout. Die Auslöser dafür können unterschiedlich sein. «Es war ein Mix aus verschiedenen Faktoren», ist sich Reichmuth sicher.
Freundin als grosse Stütze
In unangenehmer Erinnerung hat er gewisse Gespräche über seinen Gesundheitszustand. «Einige Leute zeigten wenig Verständnis. Das schmerzte teilweise.» Glücklicherweise konnte Reichmuth auf ein gutes Umfeld zählen. Insbesondere seine Partnerin war eine grosse Stütze. «Sie hat mir unglaublich gutgetan.»
Zudem holte er sich professionelle Hilfe. «Dieser Schritt braucht Überwindung und verdient deshalb grossen Respekt», findet Herzog. Reichmuth kehrte ins Sägemehl zurück und darf sich nun Kranzfestsieger nennen. «Ich habe in dieser Zeit viel gelernt.» Reichmuth hat gemerkt, was er braucht, um befreit und glücklich durchs Leben zu gehen.
Trainer zeigt sich beeindruckt
Eine Veränderung betrifft das Krafttraining. Reichmuth absolviert seine Einheit am Mittwochmorgen nun alleine. Kein Vergleich mehr, kein Druck, mithalten zu müssen. Auf das Training mit den ganz schweren Gewichten verzichtet Reichmuth. «Das ist einfach nicht mein Ding. Und wenn neben mir jemand 200 Kilo stemmt, verunsichert mich das.»
Viel lieber hält er sich polysportiv fit. Einmal in der Woche geht er beispielsweise in die Pilates-Stunde seiner Freundin. «Das ist ein super Ausgleich zum Schwingen.» Trainer Herzog ist beeindruckt: «Wie er sich zurückgekämpft hat, freut mich viel mehr als der Sieg.» Dieser zeigt den beiden aber, dass sie sich auf dem richtigen Weg befinden. Eine entscheidende Richtungsänderung initiierte Herzog wenige Wochen vor dem Zuger Kantonalen.
Zurückhaltung nach starkem Saisonstart
Reichmuths Auftritt an einem Rangschwinget gefiel ihm nicht. «Seine Körpersprache war schlecht.» Herzog suchte das Gespräch. Bis dahin hatte sich Reichmuth vor allem darauf konzentriert, wieder Freude am Schwingen zu haben. «Aber das allein genügt nicht», sagt er heute.
«Ich habe mir selbst etwas vorgemacht. Freude ist wichtig. Aber ohne Fokus und Siegeswille gewinnst du nichts.» Trotz der starken Rückkehr ins Sägemehl bleibt Reichmuth zurückhaltend. Grosse Ziele will er nicht formulieren. «Ich bin einfach dankbar, dass ich wieder voll angreifen kann.»