Darum gehts
Am Sonntag werden ungewöhnlich viele Augen auf Schwinger Marcel Räbsamen (24) gerichtet sein. Der Eidgenosse führt die St. Galler beim eigenen Kantonalen als Teamleader an. Die beiden Aushängeschilder Damian Ott und Werner Schlegel fehlen verletzt. Seine Chancen auf den ersten Kranzfestsieg scheinen so gut wie noch nie – wäre da nicht Unspunnen-Sieger Samuel Giger.
Für seinen Premierensieg muss Räbsamen den Thurgauer Modellathleten aus dem Weg räumen. Blick hat ihn vier Tage vor dieser Herkulesaufgabe auf der Baustelle in Gähwil SG besucht. Der gelernte Dachdecker und Fassadenbauer versucht sich neuerdings als Maurer. Seit letztem Herbst arbeitet er für die Firma seines Vaters Michael.
Räbsamen erhofft sich durch den Wechsel mehr Erfolg im Sägemehl. «Nun bin ich deutlich flexibler, was die Arbeitszeiten betrifft.» So darf er am Montagmorgen nach einem Schwingfest ein paar Stunden später anfangen. Zudem kann er problemlos unter der Woche tagsüber ins Krafttraining gehen. Seine grösste Baustelle löst er damit aber nicht.
Auf die Frage, weshalb er noch immer auf einen Kranzfestsieg wartet, antwortet Räbsamen blitzschnell: «Es fehlt im Kopf.» Was dabei genau das Problem ist, zeigen seine Gedanken kurz vor dem letztjährigen Saisonhöhepunkt. Am Samstag vor dem Jubiläumsfest in Appenzell fühlte sich Räbsamen miserabel. «Die Freude am Schwingen war weg. Ich hatte keine Lust, am anderen Morgen einen Wettkampf zu bestreiten.»
Ihn hemmte die Angst vor einer weiteren Enttäuschung. Ein Jahr zuvor musste Räbsamen beim Unspunnen-Schwinget nach vier Gängen unter die Dusche. «Ich wollte allen beweisen, dass ich es besser kann. Gleichzeitig hatte ich Angst, wieder zu verlieren. Ich stellte mir vor, was die Leute dann über mich sagen würden.»
Bevor sich Räbsamen weiter mit solchen Gedanken beschäftigen konnte, rief er einen guten Kollegen an. Bei einer Glace redet dieser ihm ins Gewissen. «Er verpasste mir eine Gehirnwäsche. Ich realisierte dadurch, dass meine Erwartungen viel zu hoch waren.» Die Saison konnte aber auch dieses Gespräch nicht mehr retten.
Am anderen Tag gewann Räbsamen nur zwei Gänge. Am Ende resultierte der enttäuschende 13. Rang, was zu seinen bescheidenen Auftritten im letzten Sommer passte. An allen drei Bergfesten verpasste der St. Galler den Kranz. Bereits im Jahr zuvor lief es ihm nicht nach Wunsch.
Räbsamen fehlte die nötige Lockerheit. Er führt dies auf einige gut gemeinte Ratschläge aus seinem näheren Umfeld zurück. «Sie meinten, ich soll mich stärker fokussieren.» Deshalb fing er vor den Gängen an, Techno- und Hardstylemusik zu hören. Doch statt ihn zu pushen, hemmten ihn diese harten Klänge eher. «Ich verkrampfte mich.»
Offensichtlich wurde dies gegen Gegner auf Augenhöhe. Nach seinem Kranzgewinn am Eidgenössischen Schwingfest 2022 in Pratteln BL dauerte es knapp zwei Jahre, bis er erstmals einen Eidgenossen bodigen konnte. «Das ist zu wenig. So gewinnst du keine Kranzfeste.»
Deshalb nahm er diesen Winter gleich mehrere Änderungen vor. Zum einen auf beruflicher Ebene, aber auch im Athletiktraining. Wie Schlegel und Ott hat auch Räbsamen sich von Robin Städler getrennt. Neuerdings schwitzt er im Fitnesscenter seines Physiotherapeuten, der sich selbständig gemacht hat.
Obwohl der Winter perfekt verlief, war Räbsamen mit seinen Leistungen bei den Frühjahresschwingeten nicht zufrieden. Noch immer fehlte ihm die Lockerheit. Das sah auch sein früherer Jungschwingerleiter. Vor dem Thurgauer Kantonalen kam er deshalb auf Räbsamen zu und stellte ihm eine Frage.
«Was hast du vor drei Jahren anders gemacht?», wollte er vom Spitzenschwinger wissen. Räbsamen erinnerte sich. «Damals hatte ich einfach Freude am Schwingen.» Diese Begeisterung für den Nationalsport versucht er nun wieder stärker zuzulassen. Vor den Gängen hört Räbsamen keine Techno- und Hardstylemusik mehr. «Teilweise sauge ich einfach die tolle Stimmung am Schwingfest auf.»
Diese scheint ihn zu beflügeln. Am vergangenen Samstag glänzte er am Zürcher Kantonalen mit dem zweiten Rang. «Nun muss ich eine Mischung zwischen dieser Lockerheit und der nötigen Anspannung finden.» Wenn ihm das rechtzeitig zum St. Galler Kantonalen gelingt, scheint eine Überraschung möglich.