Darum gehts
Der Bach plätschert leise talwärts, als Joel Wicki (28) den rechten Zügel etwas anzieht. Sein Pferd gehorcht und dreht sich um. «Hier ist die Welt noch in Ordnung», sagt der Schwingerkönig mit einem breiten Lächeln zu Hans Stucki. Den alle eigentlich nur «Hausi» nennen. Die beiden Freunde reiten an diesem Mittwochmorgen durch die Region Sörenberg.
Inmitten von Bäumen und am Fusse von Berggipfeln findet Wicki Zeit, um den Kopf zu lüften, Gedanken zu sortieren und Pläne zu schmieden. Während die beiden hintereinander herreiten, erzählt Stucki von einem Tag vor knapp 20 Jahren.
Niederlagen schmerzten Wicki schon als Kind
Der heutige Pensionär führte damals das Bergrestaurant Rossweid. Neben dem Spielplatz baute er einen Sägemehlring. Da tauchte der sechsjährige Wicki mit seinem Vater auf. «Seinen ersten Kampf hat Joel gegen einen Älteren verloren», erinnert sich Stucki. «Er brach in Tränen aus – so wütend war er.»
Als Stucki das beobachtete, ging er zu Wickis Vater und sagte: «Aus diesem Jungen wird mal was. So viel Ehrgeiz in dem Alter ist selten.» Knapp zwei Jahrzehnte später krönte sich Wicki 2022 in Pratteln zum König. «Sogar die Pferde hatten Freude!», jubelt Stucki.
Seit seiner Pensionierung führt er ein Pferdetrekkingunternehmen. Mit seinen Kunden entdeckt er die Region Sörenberg. Wicki ist dabei immer ein gern gesehener Gast. Für den Ausflug auf die Alp Mittlischt-Arni hat Stucki ihm ein Pferd mit viel Temperament ausgesucht. «Das passt zu dir», sagt er mit einem Augenzwinkern.
Der König entdeckt ein Tier am Hang
Wicki lacht, greift nach den Zügeln und schwingt sich in den Sattel, als hätte er die letzten Jahre im Wilden Westen verbracht. Dann gleitet seine Hand sanft durch die Mähne des Pferdes. Tiere haben für Joel Wicki von jeher eine besondere Bedeutung.
Schon als Kind zog es ihn zu den Kühen auf dem Bauernhof oder mit dem Vater auf die Jagd. «Ich war lieber draussen bei den Tieren als in der Schule», sagt er. Viele Stunden verbrachten die beiden damit, Wildtiere zu beobachten. Dieses geschulte Auge hat Wicki bis heute.
Auf einmal lehnt er sich leicht aus dem Sattel, deutet auf einen steilen Hang und sagt: «Dort oben steht eine Gams.» Wenige Minuten später erreichen sie die Alp. Stucki und Wicki werden von einer befreundeten Familie erwartet, die dort ihre Ferien verbringt. Der Vater ist ebenfalls Jäger, genauso wie der Grossvater. Gemeinsam suchen sie mit einem Feldstecher den Hang ab und bestätigen Wickis Beobachtung.
Freude und Wehmut auf der Jagd
Dann laden sie die Gäste in ihre Holzhütte ein. Es gibt regionalen Käse, würzigen Salami und frisches Brot. Am Holztisch, zwischen Bergkäse und dampfendem Kaffee, beginnt eine angeregte Diskussion über die Jagd.
Wicki erklärt, dass Jagen weit mehr sei als ein Schuss im richtigen Moment. Der Grossteil der Arbeit passiere davor und danach: Wildbestände beobachten, Freiflächen mähen, Salzleckstellen auffüllen, Wege instand halten. «Wir geben der Natur sehr viel», sagt er. «Und wenn einmal alles passt, darf man auch ein Tier erlegen.»
Das sei für ihn immer ein besonderer Moment – verbunden mit Freude, aber auch mit Wehmut. «Es ist nicht selbstverständlich, dass ein Tier für dich stirbt. Deshalb muss man dankbar sein und es mit Respekt behandeln.» Draussen ziehen Wolken über die Gipfel, drinnen wird weiter diskutiert – über Wildtiere und den Alltag als Bauer.
Harter Kampf für ein paar zusätzliche Kilos
Wicki hört aufmerksam zu, stellt Fragen, teilt seine eigenen Erfahrungen. Er wirkt hier wie einer von ihnen, nicht wie der Schwingerkönig, der in wenigen Tagen seinen Titel verteidigen will. «Mir gefällt es, mich mit anderen Bauern auszutauschen. Da kannst du etwas lernen. In der Landwirtschaft ist es ähnlich wie im Sport: Du musst deine Methoden immer wieder hinterfragen und offen sein für Neues.»
Genau mit diesem Ansatz hat sich der Luzerner auch auf diese Saison hin noch einmal intensiv mit seinem Körper auseinandergesetzt. Der 1,83 Meter grosse Wicki misst zehn Zentimeter weniger als die meisten seiner Rivalen. Diesen Grössennachteil macht er mit Explosivität und perfekter Technik wett.
Um sich einen Vorteil zu verschaffen, legte der Landwirt im Winter noch einmal eine Schippe drauf – und trainierte sich rund drei Kilo Muskelmasse an. Neu bringt er 110 Kilo auf die Waage. Der König ist so stark wie noch nie.
Ein Döner nach dem Training
«Diese zusätzliche Muskelmasse aufzubauen, war ein harter Kampf», sagt Wicki. «Ich musste mehr Proteine essen, mich manchmal sogar zwingen, noch einen Shake zu trinken.» Im Athletiktraining habe er neue Übungen eingebaut. Dabei zählt er auf die Expertise seines Coaches Daniel Hüsler.
Die zusätzlichen Kilos spürte Wicki im Sägemehl zu Beginn. «Mehr Gewicht braucht mehr Energie. In langen Gängen musste ich härter fighten.» Inzwischen habe er sich daran gewöhnt. «Es ist ein Balanceakt. Zu schwer – und gewisse Schwünge gehen nicht mehr so gut. Esse ich zu wenig, bin ich schnell zwei, drei Kilo leichter.»
Dieses Problem kennen viele Spitzenschwinger – der Sieger eines Eidgenössischen verlor sogar einmal zehn Kilo in einer Saison. Wicki achtet deshalb genau auf seine Ernährung, erlaubt sich aber auch Ausnahmen: «Nach dem Training im Schwingkeller darf es mit den Teamkollegen auch mal ein Kebab sein. Das tut dem Kopf gut.»
Wicki kämpfte einige Wochen lang verletzt
Die Resultate in dieser Saison geben ihm recht. Wicki gewann das Innerschweizer und triumphierte erstmals auf dem Brünig. Ein fettes Ausrufezeichen nach einer einmonatigen Verletzungspause.
Wicki musste einen kleinen Eingriff am Knie über sich ergehen lassen. «Die Operation war nötig, damit ich am ESAF schmerzfrei schwingen kann.» Einige Wochen lang hatte Wicki die Verletzung mit sich herumgeschleppt, bis er sich schliesslich für einen Eingriff entschied.
Emotionale Botschaft zum Schluss
Dass Wicki wieder im Sägemehl steht, freut Stucki ganz besonders. «Für mich ist Joel ein Ausserirdischer! Wahnsinn, was er alles unter einen Hut bringt. Für unsere Region ist er ein riesiges Geschenk.» Wie schön diese ist, haben die beiden auf ihrem knapp dreistündigen Ausflug einmal mehr gesehen.
Zurück im Stall, verabschiedet sich Stucki von seinem Freund Wicki. Dabei gibt er ihm noch eine wichtige Botschaft mit auf den Heimweg: «Egal, was am ESAF passiert: Ich und meine Pferde sind so oder so stolz auf dich.»