Darum gehts
- Randalierer in Lausanne zünden Mülltonnen an und werfen Feuerwerkskörper.
- Bewohner versuchen vergeblich, die Unruhestifter zur Vernunft zu bringen.
- Die Polizei bringt die Situation gegen 1 Uhr morgens unter Kontrolle.
Die Rufe aus den Fenstern und Balkonen kommen in verschiedenen Sprachen, doch es bringt nichts. «Drückt euren Hass anders aus!»; «Rispetto, no violenza! (Respekt, keine Gewalt!)». Es ist kurz nach 22 Uhr am Montagabend im Lausanner Stadtteil Prélaz, wo aufgebrachte Bewohnerinnen und Bewohner Randalierer anschreien, die Mülltonnen anzünden und mit Feuerwerkskörpern werfen. Mütter laufen barfuss und in gestreiften Nachthemden auf die Strasse und versuchen, die Randalierenden zur Vernunft zu bringen.
Doch in der zweiten Nacht in Folge ist der Zorn stärker als die Bitten der Anwohnerinnen und Anwohner. Nicht alle Unruhestifter kommen aus dem Quartier, in dem Marvin M.* (†17), ein Jugendlicher kongolesischer Herkunft, in der Nacht von Samstag auf Sonntag auf der Flucht vor der Polizei auf einem gestohlenen Töff ums Leben kam. «Wir haben Leute aus Bussigny, Renens und Crissier gesehen», bezeugt ein Jugendlicher, der an den ersten Scharmützeln teilgenommen hat.
Für ihn wie für viele andere ist die Polizei hauptverantwortlich für die Spannungen der vergangenen Tage, die sie mit Feuer, Lärm und Wut provozieren. «Die Polizisten kommen immer davon. Sie werden nie verurteilt», sagt ein verbitterter Jugendlicher.
Den ganzen Montag über spiegelten die Ereignisse des Wochenendes in beispielloser Weise die aktuellen Ereignisse im Waadtland wider und heizten den Konflikt an. Am Vormittag wurde bekannt, dass ein neuer Bericht die Selbstverteidigung der Beamten im Fall Nzoy infrage stelle, benannt nach dem schwarzen Mann, der 2021 am Bahnhof von Morges gestorben war. Und am frühen Nachmittag enthüllten die Lausanner Behörden eine Reihe von rassistischen, sexistischen, antisemitischen und diskriminierenden Nachrichten, die Polizisten in Whatsapp-Gruppen geteilt hatten. Stadtpräsident Grégoire Junod (50) beklagte einen «systemischen Rassismus» innerhalb der Polizei.
Die Jugendlichen in Prélaz sind via soziale Netzwerke, aber auch traditionelle Medien sehr gut informiert und lassen sich diese Enthüllungen nicht entgehen. Dies gilt umso mehr, als dass sich die Todesfälle infolge von Polizeieinsätzen im Kanton Waadt in den vergangenen zehn Jahren gehäuft haben.
Mutter bringt verängstigtes Mädchen in Sicherheit
In Prélaz waren die Demonstranten in voller Stärke unterwegs, anders als bei einem angekündigten «patriotischen Flashmob» in der Innenstadt, wo keine Menschenseele aufgetaucht war. Es ist 21.43 Uhr, als sich auf der Avenue de Morges das Szenario vom Vortag zu wiederholen beginnt. Ein paar Feuerwerkskörper lassen ein kleines Mädchen, das auf einem Spielplatz auf einer Schaukel sitzt, vor Angst aufschreien, es wird von seiner Mutter schnell in Sicherheit gebracht. Junge Menschen, schwarz gekleidet und manchmal vermummt, fahren auf Zweirädern vorbei. Container werden in die Mitte der Strasse geschoben und angezündet, während Feuerwerkskörper abgefeuert werden. Ein Buswartehäuschen geht in Flammen auf.
«Warum hat die Stadt die Mülltonnen nach den gestrigen Krawallen draussen gelassen?», ärgert sich ein Bewohner des Quartiers und erklärt, dass die Container bereits diesen Sommer angezündet worden seien. Andere holen Feuerlöscher hervor und versuchen, die Feuer zu löschen, die überall, auch in gefährlicher Nähe zu den Häusern, lodern. Die Feuerwehr ist zwar eingetroffen, wird aber auf beiden Seiten der Strasse blockiert. «Seit Sonntag fühlen wir uns unsicher», erklärt eine Frau. «Heute sind es die Mülltonnen und morgen die Autos. Ernsthaft, warum zünden sie das Viertel an? Es ist Dummheit, die tötet, nicht die Polizei.»
Etwas weiter oben, im Quartier Jardins de Prélaz, umringen Jugendliche einen schwankenden alten Mann, der Tränengas in die Augen bekommen hat. Ein Teenager mit Mütze schreit: «Bringt eure Eltern rein!» Auf der nun für den Verkehr gesperrten Strasse knallt es aus allen Richtungen, und die Randalierer rennen in einer Mischung aus Angst und Aufregung wie die Kaninchen davon.
Polizei riegelt Quartier ab
«Ich lebe seit 38 Jahren in der Schweiz und habe so etwas noch nie gesehen», sagte ein Anwohner, während er das Spektakel verfolgt. Das Spektakel hat sich mittlerweile auf die andere Seite des Quartiers, auf den Chemin de Renens, verlagert. Brennende Mülleimer, wieder Töffs. «Wir sind mitten im Geschehen», sagt ein Jugendlicher lachend und stösst seinen Freund mit dem Ellenbogen an. «Nein, Mama, ich kann nicht nach Hause gehen, sie sind dabei, das ganze Quartier abzuriegeln», erklärt ein junges Mädchen am Handy, während ein Einsatzfahrzeug vorfährt, um das Gebiet abzuriegeln.
Die Polizei bringt die Situation schliesslich gegen 1 Uhr morgens unter Kontrolle, als nur noch einige wenige Randalierer herumlaufen. Gegen 0.30 Uhr waren einige noch auf die Terrasse einer Kindertagesstätte geklettert, um anschliessend Bleche und Eisenstangen auf die Ordnungskräfte zu werfen. Die Avenue de Morges ist zu diesem Zeitpunkt bis nach Malley mit umgestürzten Containern und abgerissenen Bauzäunen übersät. Zahlreiche Mauern sind mit Graffiti beschmiert worden.
Der raue Abend bildet einen starken Gegensatz zur düsteren Stille, die am späten Montagmittag über dem Ort lag, an dem Marvin M. nach einem Sturz in der Nacht von Samstag auf Sonntag gestorben war. Wortlos standen damals viele junge Menschen vor den Blumen und Kerzen, die zu Ehren des weithin bekannten Rappers aufgestellt worden waren. Nachdem ein Jugendlicher zuvor an derselben Stelle wiederholt betont hatte, dass Marvin ein guter Kerl gewesen sei, der nichts mit Streitereien zu tun gehabt habe, sagte er nach einigem Zögern: «Madame, kann ich Ihnen eine Frage stellen? Wissen Sie, was nach dem Tod kommt?»
* Name bekannt