«Das Ziel ist zu helfen und nicht allein zu lassen»
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Giovanni Sabetti:«Das Ziel ist zu helfen und nicht allein zu lassen»

«Wenn es schlecht riecht, kann das ein Zeichen sein»
Senioren bekommen unangekündigten Polizeibesuch

Im Tessin besuchen Polizisten Menschen ab 80 Jahren zu Hause. Blick begleitet Giovanni Sabetti und Samuel Cuni-Berzi auf Senioren-Patrouille gegen Einsamkeit und Enkeltrickbetrüger.
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Kurz vor Weihnachten: Edith Bellet empfängt die Polizisten Giovanni Sabetti (l.) und Samuel Cuni-Berzi zum Besuch.
Foto: Raphaël Dupain

Darum gehts

  • Tessiner Polizisten besuchen seit 2023 jährlich 100 Senioren
  • Sie sammeln Notfalldaten und helfen bei sozialen und gesundheitlichen Problemen
  • 750 Seniorinnen und Senioren über 80 leben im Revier, gewisse allein
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Pascal ScheiberReporter Gesellschaft

«Buongiorno, la polizia», ruft Polizist Giovanni Sabetti (58) durch das Treppenhaus in Tenero TI. Mit Kamerad Samuel Cuni-Berzi (38) besucht er vor Weihnachten den Rentner Elvezio Ghezzi (89). Er hat kein Verbrechen begangen. Hier im Tessin reicht das Alter 80 für einen Besuch der Polizisten.

Ghezzi bittet die bewaffneten Herren in Uniform herein und schwatzt drauflos. Medikamente, Enkel, Spitex. Alles, was das ruhige Rentnerleben bewegt, kommt auf den Tisch. Vor Monaten erlitt Ghezzi einen Hirnschlag. Heute trägt er zwei Stents in sich und muss täglich 25 Tabletten schlucken.

Polizist Sabetti legt ein Dossier auf den Tisch. «Wie heisst Ihr Arzt?», fragt er den Rentner. Auf einem Formular füllt er die Angaben aus und erklärt: Im Notfall wisse die Polizei dank dieser Daten, wer sich um den Rentner kümmert oder wer einen Schlüssel zur Wohnung besitzt. «In vielen Fällen leben die Angehörigen nicht im Tessin, sondern in Zürich oder im Ausland.» Ein Indiz für Einsamkeit oder Herausforderungen im Notfall.

Im Revier der beiden Polizisten wohnen aktuell rund 750 Menschen, die über 80 Jahre alt sind. Nicht alle leben alleine. Aber: «Wenn wir bei einem Viertel die Einzigen in der Gemeinde mit den nötigen Informationen sind, dann ist das relevant», erklärt der 58-Jährige.

Die Senioren-Patrouille seien genau so wichtig wie ihre Einsätze bei Unfällen oder Diebstahl, erzählen Samuel Cuni-Berzi (l.) und Giovanni Sabetti am Lago Maggiore in Vira TI.
Foto: Raphaël Dupain

Die Gemeindepolizei «Intercomunale del Piano» betreut die Tessiner Gemeinden Gordola, Tenero-Contra, Minusio, Verzasca, Brione sopra Minusio, Gambarogno und Lavertezzo. Vor zwei Jahren startete die Polizei mit dem Projekt «Over 80». Seither besuchen die Polizisten jährlich 100 Menschen über 80 – nicht nur zur Weihnachtszeit. Unangekündigt fahren sie bei den betroffenen Frauen und Männer vorbei. «Wir melden uns nicht an, weil wir die Realität sehen wollen», sagt Samuel Cuni-Berzi.

Sie wollen erkennen, ob die Senioren ihren Alltag stemmen können. Cuni-Berzi: «Wenn es schlecht riecht, kann das ein Zeichen der Verwahrlosung sein.» Ihre Arbeit ist gesetzlich verankert, fordert jedoch das Einverständnis der Betroffenen. In einem oder zwei Fällen pro Jahr lehnen die Senioren den Polizeibesuch ab, erklären die beiden. Dann ziehen die Polizisten von dannen.

«Das ist Bellissimo»

Seit 20 Jahren lebt der 89-jährige Tessiner Elvezio Ghezzi alleine. «Das ist Bellissimo», sagt er und grinst. Ordnung, Geruch und Gemütszustand liefern den Tessiner Beamten keinen Grund zur Sorge. Einsam fühlt er sich nicht. Seine Ex-Frau wohnt nebenan. Die Kinder und Enkel leben in der Region. Weitere Abklärungen braucht es nicht.

Polizist Sabetti übergibt dem Rentner einen Berg Broschüren. «Enkeltrickbetrug», «Schockanruf», «Sicher leben im Alter» steht darauf. Ghezzi nimmt sie zur Kenntnis, spricht aber lieber über sich. Die beiden Gemeindepolizisten hören zu, fragen nach. «Wie feiern Sie Weihnachten?», fragt Sabetti. Rentner Ghezzi: «Im Maggiatal mit der Familie.» Nach einer halben Stunde ist die Senioren-Intervention vorbei.

Was die Tessiner Polizisten machen, ist schweizweit einzigartig. Die Korps in der Deutschschweiz bieten präventive Unterstützung, aber nicht systematisch und im direkten Kontakt wie hier.

Risiko und Schutz

Seit 35 Jahren steht Giovanni Sabetti im Einsatz. Zuvor in Locarno, heute in für die Gemeindepolizei rund um Gordola. Pro Jahr besucht jeder Polizist auf dem Gemeindeposten rund 10 Senioren. «Das sind keine Kontrollbesuche», erklärt er. Dank des Besuchs könne die Polizei potenzielle Risiken oder Sorgen für die Senioren früh erkennen.

Brauchen die Seniorinnen und Senioren Hilfe oder schaffen sie es alleine? Giovanni Sabetti liegt das Wohl der Ältesten am Herzen.
Foto: Raphaël Dupain

Er meint soziale oder finanzielle Probleme. «Oft wissen die älteren Menschen nicht, welche Hilfsangebote ihnen zustehen.» In solchen Fällen helfen die Polizisten vor Ort oder ziehen das Sozialamt bei. Es kann aber auch banal sein, erklärt er: «Ein Sohn konnte seinen Vater nicht erreichen, machte sich Sorgen, bis ich vor Ort merkte, dass das Handy keinen Akku hatte.»

Die Tour geht weiter. Seit wenigen Monaten gehört auch Edith Bellet (80) aus Minusio TI zum Ü80-Kreis. Vor sechs Jahren litt sie unter Brustkrebs, im Sommer folgte ein Herzinfarkt. Die Glarnerin wohnt seit 28 Jahren alleine im Tessin. Ihre Familie lebt in Frankreich und Kenia.

«Wollen Sie einen Kaffee?», fragt sie die Polizisten. Und sagt: «Ich war eingangs misstrauisch, ob sie nicht böse Absichten haben.» Vor falschen Polizisten warnt auch die Tessiner Polizei. Kriminelle geben sich als Polizisten aus. Sie inszenieren eine Notsituation und fordern Geld. Sabetti und Cuni-Berzi wollen kein Geld, sie bringen auch hier: Präventionsbroschüren und füllen das Notfallformular aus.

Brustkrebs, Herzinfarkt und die Familie im Ausland: Edith Bellets erzählt den Polizisten von ihrer Geschichte. Sie ist froh, dass sich die Beamten um Menschen im fortgeschrittenen Alter kümmert.
Foto: Raphaël Dupain

Bis zu ihrer Pension führte die 80-Jährige einen Coiffeursalon im Dorf. Auch wenn die Familie weit weg ist, fühle sie sich nicht einsam, erzählt sie. Und dennoch lässt sie die Polizisten spüren, dass ihre Anwesenheit ein Vakuum füllt.

Während die Jungen den Südkanton aus wirtschaftlichen Gründen verlassen, übernehmen die Polizisten teils ihre Lücke. Ein willkommenes Weihnachtsgeschenk.

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