Darum gehts
«Sie haben mich mit Fischhaut zusammengeflickt. Am Rücken», sagt Erwin Schatt zum Beobachter und zeigt ein Bild auf seinem Handy her. Tatsächlich schimmern Teile seines Rückens schuppengleich.
Dass der 63-Jährige heute am Küchentisch sitzen und von seinem Fischhautrücken erzählen kann, ist keine Selbstverständlichkeit. Über sieben Monate lag er auf der Intensivstation für Brandverletzte des Unispitals Zürich und kämpfte um sein Leben. Denn am 7. Mai 2021 hatte ein Arbeitsunfall sein Leben und das seiner Familie aufs Entsetzlichste verändert.
Das ist ein Beitrag aus dem «Beobachter». Das Magazin berichtet ohne Scheuklappen – und hilft Ihnen, Zeit, Geld und Nerven zu sparen.
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Hochexplosives Aceton verwendet
An jenem 127. Tag des Jahres tat er nach dem Mittagessen das, was er 13 Jahre lang getan hatte. Er produzierte für seinen Arbeitgeber RWM, eine Schweizer Tochter der deutschen Waffenschmiede Rheinmetall, am Standort in Studen SZ ein Gemisch namens A11.
A11 besteht aus Bariumperoxid, Magnesium, Silizium, Graphit und Ethylcellulose. Auch hochexplosives Aceton wird seit einigen Jahren beim Herstellungsprozess verwendet. Der Stoff treibt Geschosse an und wird für Munition verwendet, die zum Beispiel in Panzern, auf Flugzeugen und Schiffen zum Einsatz kommt.
2021 hatte Corona das Land noch im Griff. Erwin Schatt galt nach zwei Lungenembolien als Risikoperson. Deshalb arbeiteten er und sein «Totmann» an diesem Tag allein. Dieses Gerät brauchen Arbeiter im Notfall lediglich auf den Boden zu schmeissen – und schon geht der Alarm los.
Es war Viertel nach zwei. Schatt siebte gerade die Mischung vor der Laborkapelle. Dazu drückte er die bröselige Masse von Hand mit einem hölzernen Spatel durch ein Messingsieb. Das Gemisch landet jeweils durch einen Trichter auf einem Tablar, das unter der Arbeitsfläche im Unterschrank eingelassen ist.
«Ich bückte mich, um das volle Tablar hervorzuholen, richtete mich auf – und blickte in eine Stichflamme. Ich warf den Totmann auf den Boden, doch er setzte keinen Alarm ab. Ich löschte mich mit einem Schlauch und rief danach in der Zentrale an.»
Die Kollegen von der Betriebssanität hätten ihn auf einen Stuhl gesetzt und mit nassen Tüchern gekühlt, bis die Ambulanz kam.
Seine Frau ist traumatisiert
Erwin Schatt erlitt an 40 Prozent seiner Körperoberfläche Verbrennungen dritten Grades. Nicht nur der Rücken, auch Hände, Gesicht, Hals, der ganze Kopf waren den Flammen bis auf die Arbeitsbrille schutzlos ausgeliefert gewesen. «Tatsächlich ist man so voller Adrenalin, dass man nicht viel mitkriegt», sagt Schatt.
Viel zu viel mitgekriegt hat hingegen seine Frau Hanni. «Die Firma rief mich an. Es hiess, dass mein Mann sich verbrannt hätte. Ich dachte, es sei wohl nicht so schlimm, fuhr aber trotzdem sofort hin, um dem Arzt zu sagen, welche Medikamente Erwin nimmt. Aber als ich meinen Mann sah, dachte ich: Das wars.» Der Anblick der schwersten Verbrennungen hat sie traumatisiert.
Kein Wort des Bedauerns, kein Mitgefühl
Noch vor 20 Jahren hätte Erwin Schatt kaum überlebt. Monatelang hiess es alle paar Tage, es gehe mit ihm zu Ende. «Ich war in einem Albtraum», sagt seine Frau zum Beobachter.
Nach Darstellung von Hanni Schatt meldete sich die Personalabteilung erst nach vier Monaten. Ein Wort des Bedauerns, des Mitgefühls habe sie nie erhalten, sagt sie. Und schon gar keine Entschuldigung.
Vorgesetzte verhängen Arealverbot
Nachdem Erwin Schatt nach elf Monaten aus Spital und Reha zurück war, besuchte er seine Arbeitskollegen im Betrieb. «Beim zweiten Mal, im Juni 2022, wollte ich in unser Gemeinschaftsbüro. Doch Vorgesetzte hielten mich zurück. Sie sagten mir, ich dürfe nicht mehr aufs Areal», erzählt er. Über die Beweggründe grübelt er noch heute.
Der Arbeitgeber findet, Erwin Schatt trage selbst Schuld an dem Unfall. Er habe die Sicherheitsvorschriften missachtet, weil er keinen Helm und keine Jacke getragen hatte. Der Anwalt von RWM Schweiz schreibt deshalb von einem «krass weisungswidrigen Verhalten» des Opfers.
Erwin Schatt ist keiner, der schnell aufbraust. Ein Vernünftiger. Jammern gehört nicht zu seinem Repertoire. «Unfälle können passieren», sagt er. Aber dass sein Arbeitgeber ihm die Schuld für den Unfall in die Schuhe schieben will, das macht ihn hässig. «Wir haben diese Arbeit alle jahrelang ohne Brandschutzjacke und Helm gemacht. Und unsere Vorgesetzten wussten das.»
Staatsanwalt stellt Verfahren ein
Schatt zeigte seinen Arbeitgeber RWM Schweiz und seinen Vorgesetzten wegen fahrlässiger schwerer Körperverletzung und Verstössen gegen das Bundesgesetz über die Unfallversicherung an. Konkret: Sie hätten die Vorschriften über die Verhütung von Berufsunfällen nicht eingehalten und ihn dadurch schwer verletzt.
Die Staatsanwaltschaft nahm die Untersuchung auf. Doch am 4. Dezember 2024, dreieinhalb Jahre nach dem Unfall, stellte sie diese wieder ein. Ihre Begründung: Das Unfallopfer habe «die vorgeschriebene Hitzeschutzjacke und Handschuhe nicht getragen» und sich damit der Weisung des Arbeitgebers widersetzt. Deshalb treffe diesen keine Schuld.
Widersprüchliche Aussagen von Mitarbeitern
Erwin Schatt reichte Beschwerde gegen die Einstellung des Verfahrens ein. Mit Erfolg: Das zuständige Kantonsgericht entschied. Gemäss dem Grundsatz «im Zweifel für die Anklageerhebung» hätte der Staatsanwalt das Verfahren nicht einstellen dürfen. Dieses wurde nun an die Staatsanwaltschaft zurückgewiesen.
Zweifel hätten laut Kantonsgericht etwa wegen der polizeilich rapportierten Aussagen von Mitarbeitern aufkommen müssen. Sie erklärten gegenüber dem Polizisten kurz nach dem Unfall, dass laut Arbeitsplan A11 eine Schutzjacke nicht vorgeschrieben sei.
Zwar sagten andere Mitarbeiter später das Gegenteil aus. Doch das reicht aus Sicht des Kantonsgerichts nicht, um die Zweifel auszuräumen. Im Entscheid steht: «Der Verdacht […] lässt sich nicht sicher ausräumen, weil die Zeugen die Vorbereitung und Besprechung ihrer Einvernahmen einräumten.»
Einer habe bei der Einvernahme die entsprechenden Unterlagen von seinem Arbeitgeber sogar dabeigehabt, etwa das Argumentarium des Firmenanwalts, sagt Erwin Schatt.
Unfallort wurde verändert, Forensiker schlecht informiert
Zudem habe die Suva die Firma nach dem Unfall zur Kontrolle und Durchsetzung der Vorschriften ermahnt, so das Kantonsgericht in seinem Entscheid.
In den Akten, die dem Beobachter vorliegen, finden sich weitere Punkte, die stutzig machen. So zeigt der forensische Bericht auf, dass der Unfallort schon in den ersten zwei Stunden nach dem Unfall verändert wurde.
Dass bei der Herstellung von A11 hochentzündliches Aceton eingesetzt wird, darüber informierte die Firma den zuständigen Forensiker nicht. Er erfuhr davon erst Monate später: «In einer Mail von Dr. Mathias Juch (Suva) wurde uns mitgeteilt, dass bei der Produktion […] das Lösungsmittel Aceton verwendet werde», steht in seinem Bericht.
Veralteter Arbeitsplan, verschwundener Merkzettel
Die Firma hatte den Arbeitsplan für die Herstellung von A11 jahrzehntelang nicht angepasst. Obwohl seit 2019 Aceton eingesetzt wurde.
Vom Zettel mit der Mengenangabe des zu verwendenden Acetons fehlte nach dem Unfall jede Spur. Ihn hatte jeweils Schatts Vorgesetzter bereitgestellt. Doch der verweigerte die Aussage. Seine Begründung laut Akten: Er habe von seinem Arbeitgeber keine Haftungsentbindung erhalten.
Tatsächlich muss der Staatsanwalt den Fall nun nochmals aufrollen. Für Unfallopfer Erwin Schatt eine Genugtuung: «Es ist unnötig viel Zeit verstrichen, aber ich bin froh, dass die Staatsanwaltschaft den Unfall noch einmal und diesmal hoffentlich genauer untersuchen wird.»
Kaum Antworten auf Fragen des Beobachters
Der Beobachter wollte vom zuständigen Staatsanwalt wissen, wieso er das Verfahren trotz dieser Ungereimtheiten eingestellt hatte. Sein Vorgesetzter liess ausrichten, er könne «aus Gründen der laufenden Strafuntersuchung sowie zum Schutz der Persönlichkeitsrechte und der Verfahrensintegrität keine fallbezogenen Auskünfte erteilen».
Auch im zivilrechtlichen Verfahren kämpft Schatts ehemaliger Arbeitgeber mit harten Bandagen. Bis heute lehnt dessen Haftpflichtversicherung jede Diskussion über eine Entschädigung ab. Sie wartet laut Schadensanwalt Sebastian Lorentz das Strafverfahren ab, «womit sich der Kreis schliesst». Versicherer HDI Global will sich «zu konkreten Kundenbeziehungen und Einzelfällen nicht äussern».
Die Fragen des Beobachters an RWM Schweiz beantwortete der deutsche Mutterkonzern Rheinmetall so: «Bitte haben Sie Verständnis, dass wir uns zu personellen Angelegenheiten, insbesondere auch, wenn es um juristische Verfahren geht, nicht äussern.»
Beide Verfahren sind noch hängig. Es gilt die Unschuldsvermutung.
Nicht nur körperlich gezeichnet
RWM Schweiz hat Erwin Schatt entlassen, sobald die Sperrfrist abgelaufen war. Mit 61 Jahren. Mittlerweile bekommt er eine IV-Rente.
Er ist nicht nur schwer gezeichnet, sondern auch schnell erschöpft. Sein Gleichgewichtssinn ist stark beeinträchtigt, er zittert oft unkontrollierbar. «Er hat auch Albträume», sagt seine Frau. Seine geliebten Velotouren um den Sihlsee wird er nie mehr machen können.