Hier stürzt der Gletscher Blatten entgegen
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Video zeigt Mega-Abbruch:Hier stürzt der Gletscher Blatten entgegen

Bergsturz begräbt Existenz von mehr als 300 Menschen – Einheimische zwischen Hoffnung und Ohnmacht
«Ein neues Blatten wird es nicht geben»

Seit das Dorf von den Naturgewalten ausradiert wurde, ringt das ganze Tal um sein Selbstverständnis. Reportage aus dem Katastrophengebiet.
Publiziert: 01.06.2025 um 00:01 Uhr
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Aktualisiert: 01.06.2025 um 11:31 Uhr
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Hans-Peter Siegen ist Landwirt im Lötschental.
Foto: ANDREA SOLTERMANN
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Robin BäniRedaktor

Am Strassenrand steht ein Soldat. Er verlangt den Presseausweis, blickt kurz darauf und gibt den Weg frei. Ab hier ist Sperrzone, Aussenstehende haben keinen Zutritt. Nur Anwohner, Helferinnen oder Journalisten dürfen noch ins Walliser Lötschental. Am Anfang schlängelt sich die Strasse durch eine Schlucht. Es ist still hier, menschenleer. Bald kommen erste Autos entgegen, weiter oben rattert ein Helikopter über Wald und Fels. Und dann ist plötzlich Schluss: Eine Schutthalde, zwei Kilometer lang, 35 Meter hoch, versperrt das gesamte Tal. Laut Navi sollte hier ein Dorf sein.

Am Mittwoch hat ein Bergsturz Blatten unter sich begraben – die Heimat und die Existenz von mehr als 300 Menschen. Für sie ist der Albtraum Realität geworden. Doch die Gefahr ist nicht gebannt. Über dem Kleinen Nesthorn wirbelt auch jetzt noch Staub auf. Der Gipfel ist abgebrochen, hat den Gletscher mitgerissen und das Dorf Blatten verschluckt. Zehn Millionen Kubikmeter Fels, Eis, Geschiebe liegen nun dort – um die Masse abzutransportieren, bräuchte es mindestens 500'000 Lastwagen. Und immer wieder donnert neues Geröll ins Tal. Geologen warnen, es könnten weitere Hunderttausende Kubikmeter abstürzen.

Im Nachbardorf Wiler fährt der Bus. Ein Pöstler verteilt Briefe. Der Volg hat geöffnet. Man könnte meinen, es sei Alltag. Dann schaut man in die Gesichter der Männer. Ein kleines Grüppchen hat sich vor einem Restaurant versammelt. Der Bergbauer Hans-Peter Siegen (62) steht da, beide Hände auf eine Motorhaube gelegt, als müsse er sich festhalten.

Zweimal Kühe evakuiert

«Mein Landwirtschaftsbetrieb, mein ganzer …» – seine Stimme bricht, ihm fehlen die Worte. Jemand legt die Hand auf seinen Arm, will trösten. Dann rollt ein Streifenwagen heran. Ein Dorfpolizist steigt aus, geht auf Siegen zu, umarmt ihn. Sie blicken sich an, schütteln den Kopf, verwerfen die Hände. Ohne gross zu reden, sind sie füreinander da. Das unfassbare Leid – die eigene Heimat, in wenigen Augenblicken verschwunden – hat ihnen die Sprache genommen.

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Allmählich fängt sich Siegen wieder, beginnt zu erzählen. Eine Frau hat er, vier Söhne. Zusammen hatten sie einen Hof mit Galloway-Rindern. Schon seine Eltern führten den Betrieb. Demnächst sollte sein Jüngster übernehmen, im Sommer die Kühe auf die Fafleralp treiben. Aber jetzt? Der Bergbauer seufzt: «Zum Glück habe ich noch meine Kühe.» 52 sind es. Zweimal musste er die Tiere evakuieren.

Das erste Mal vor einer Woche, als der Bergsturz unmittelbar bevorstand. Die zweite Evakuation kam am Donnerstag. Da drohte eine neue Gefahr – die Lonza. Der Fluss hatte sich hinter dem Schuttkegel gestaut. Zwischendurch hiess es, eine Sturzflut drohe, ein Murgang. Mittlerweile sickert das Wasser aber durchs Geröll, der Pegel des davor entstandenen Sees sinkt. Und eine erneute Gerölllawine sei weitgehend ausgeschlossen, teilte der regionale Führungsstab am Samstag mit. Einzelne Brocken könnten aber noch vom Schuttberg herunterrollen.

Die Eindrücke der Blick-Reporterin im Video
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Im Helikopter über Blatten:Die Eindrücke der Blick-Reporterin im Video

«Was jetzt?»

Hans-Peter Siegen hatte seine Kühe nach der ersten Evakuation dorthin gebracht, wo jetzt die neue Gefahrenzone liegt. Also hiess es für ihn: Die Rinder noch einmal in den Transporter treiben, sie wieder irgendwohin bringen. «Die Tiere sind nun in Sicherheit», sagt er. «Aber was jetzt?» Diese Frage treibt hier alle um. Eine befriedigende Antwort hat keiner.

Seinen Stall hat der Bergbauer verloren. Sein Haus in Wiler aber steht noch. Andere haben gar nichts mehr – so wie Daniel Ritler. Haus und Hof liegen unter dem Schutt begraben. «Ich bin bei null angelangt», sagt er am Telefon. «Was ich morgen mache, weiss ich nicht.» Aber er müsse jetzt los, sagt der Landwirt und verabschiedet sich. Viele im Tal suchen Abstand, wollen lieber nicht mit Fremden reden. Man kann es ihnen nicht verübeln. Dutzende Journalisten aus aller Welt bewegen sich durch die verwundete Landschaft.

Wer kein Zuhause mehr hat, ist in leer stehenden Ferienwohnungen oder bei Freunden, Verwandten und Bekannten in Nachbargemeinden untergekommen. Für eine Weile geht das. Doch das Provisorium könnte zur Dauerlösung werden.

Schafe per Helikopter ausgeflogen

Aufgeben – das ist für Matthias Bellwald keine Option. Ohne die Katastrophe zu verharmlosen, will der Gemeindepräsident den Blattnern Mut machen. «Die Menschen haben alles verloren, was sie nicht auf sich trugen», sagte er an der Pressekonferenz am Freitag. «Aber das Unsichtbare in unseren Köpfen und in unseren Herzen ist evakuiert worden.» Für ihn ist klar, dass sein Dorf wieder aufgebaut werden muss. Bellwald: «Ein Lötschental ohne Blatten ist undenkbar.» Am Samstag doppelt er nach. Bereits an der nächsten Bürgerversammlung will die Gemeinde eine «Roadmap für den Wiederaufbau» präsentieren. Bellwald kündigt «klare Vorstellungen» an – und will auch «die Finanzierung darlegen».

Wiederaufbau, das wünschen sich alle. Aber noch fühlen sich die meisten ohnmächtig, niedergeschlagen. Bergbauer Hans-Peter Siegen sagt, was viele hier denken: «Ein neues Blatten wird es nicht geben – das kann ich mir nicht vorstellen.» Andere fragen sich, ob sie überhaupt im Tal bleiben wollen. Ein Hirte, der seine Schafe noch per Helikopter gerettet hat, will die Tiere nun verkaufen. «Der hat abgeschlossen», heisst es im Dorf.

Schafe werden mit Helikopter in Sicherheit gebracht
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Blatten VS einen Tag danach:Schafe werden mit Helikopter in Sicherheit gebracht

Wie es weitergeht, weiss niemand. Auch die Regierung nicht. «Es ist noch verfrüht, diese Frage zu beantworten», schreibt die Medienstelle des Kantons Wallis. Entscheidungen über die Zukunft Blattens würden Wochen, sogar Monate in Anspruch nehmen. Klar ist nur: Bund und Kanton versprechen Hilfe. Karin Keller-Sutter, die Bundespräsidentin, wandte sich an die Menschen im Tal mit den Worten: «Sie sind nicht allein.»

Blatten wieder aufzubauen – das wissen alle – wäre eine Herkulesaufgabe. Der Schuttkegel riegelt das Tal komplett ab. Noch ist die Masse instabil, das Eis nicht geschmolzen. Niemand darf den Hügel betreten, nicht einmal das Militär wagt sich in die Nähe des Gerölls. Und selbst wenn – wohin mit all dem Gestein? Wenn, dann müsste das Dorf wahrscheinlich an einem anderen Ort wieder errichtet werden. Aber wo?

Zusammen gegen das Nichts

Das Lötschental ist schmal, die Hänge sind steil und stark bewaldet. Bauland ist rar und viel Gelände, das flach genug wäre, liegt in roten Gefahrenzonen – es drohen Lawinen, Erdrutsche, Steinschläge. Ein Blick auf die Gefahrenkarten zeigt: In weiten Teilen des Lötschentals dürfte gar nicht gebaut werden. Schon vor der Katastrophe war Bauland ein knappes Gut. Jetzt ist es noch schwieriger zu finden.

Hoch über dem Tal ragt das Bietschhorn auf. Ein markanter Berg, 3934 Meter hoch, so etwas wie ein Wahrzeichen der Region. Normalerweise ein Magnet für Wanderer und Bergsteiger. Am 20. Juni hätte die Berghütte öffnen sollen. Doch zwei Zugänge sind verschüttet, der dritte führt durch die Gefahrenzone. Hüttenwartin Cornelia Wüthrich (51) sagt getrübt: «Ich denke, es wird keine Saison geben.» Vielleicht öffne sie im nächsten Jahr wieder.

Einen Sommer ohne Gäste, das könne sie finanziell verkraften. «Ich gehe einfach ins Tal und helfe den Menschen.» Das sei das Beste, was sie tun könne. «Einfach helfen.» Vielleicht ist es das, was momentan Halt gibt – die Solidarität. Fremde nehmen Betroffene auf. Bauern retten gemeinsam Tiere. Die Menschen im Tal waren schon immer eine eingeschworene Gemeinschaft. Nun sind sie es umso mehr.

«Wir haben die Mittel, um die Katastrophe zu bewältigen»
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Karin Keller-Sutter in Blatten:«Wir haben die Mittel, um die Katastrophe zu bewältigen»
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