«Entsetzen, Fassungslosigkeit und lauter Fragen»
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Georg (77) aus Berikon:«Entsetzen, Fassungslosigkeit und lauter Fragen»

Fall wie in Berikon AG wird zur Belastungsprobe für Eltern
Wenn das eigene Kind tötet

Begeht ein Kind eine furchtbare Tat wie im Fall Berikon AG, wo eine 14-Jährige mutmasslich eine 15-Jährige umgebracht hat, ist das für die Angehörigen ein Schock. Sie kämpfen mit Schamgefühlen – und mit der Frage, welche Schuld sie trifft.
Publiziert: 01.06.2025 um 19:18 Uhr
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Aktualisiert: 01.06.2025 um 19:21 Uhr
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Der Mord einer 15-Jährigen in Berikon AG entsetzt die Schweiz. Täterin soll eine 14-Jährige sein.
Foto: keystone-sda.ch

Darum gehts

  • Jugendliche Straftäter: Schwere Belastung für Familien und Gemeinschaft
  • Eltern haben nach Straftaten ihrer Kinder mit Schuldgefühlen und sozialem Druck zu kämpfen
  • Manchmal gelingt ein Austausch zwischen Opfer- und Täterfamilie
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Sara BelgeriRedaktorin

Vor rund drei Wochen erschütterte ein tragischer Vorfall die Schweiz: Im aargauischen Berikon soll eine 14-Jährige eine 15-Jährige erstochen haben. Ein Kind, das ein anderes Kind tötet: Diese schockierende Tat hat eine breite Diskussion über minderjährige Straftäterinnen und Straftäter ausgelöst – und über eine mögliche Verschärfung des Jugendstrafrechts.

Solche schweren Straftaten durch Jugendliche kommen extrem selten vor. Wenn sie jedoch geschehen, sind sie nicht nur für die Angehörigen der Opfer eine unvorstellbare Belastung, sondern auch für die Familien der Täter.

Grosse emotionale Belastung

Das weiss Hanspeter Dietz (57), der seit acht Jahren Sozialarbeiter bei der Zürcher Jugendanwaltschaft ist und eng mit jugendlichen Straftätern und deren Eltern zusammenarbeitet. Im Durchschnitt betreut er jährlich ein bis zwei Fälle von schweren Delikten, wie versuchte oder vollendete Tötungen und Vergewaltigungen.

Sozialarbeitende auf der Jugendanwaltschaft klären im Rahmen der durch die Jugendanwältinnen geführten Strafuntersuchungen die Massnahmenbedürftigkeit von straffällig gewordenen Jugendlichen ab. Hauptziel des Jugendstrafrechts ist es, durch Strafen und Massnahmen den straffällig gewordenen Jugendlichen von der Begehung weiterer Straftaten abzuhalten.

Für die Eltern jugendlicher Straftäter sei es oft eine «riesige emotionale Belastung», sagt Dietz. Die Familien müssen weiterhin ihren Alltag meistern, während sie mit der Ungewissheit des Strafverfahrens konfrontiert sind. «In den allermeisten Fällen wissen Eltern nicht, wie der Prozess abläuft, und haben viele Fragen», so Dietz. Diese Fragen können häufig erst im Lauf der Strafuntersuchung beantwortet werden.

Besonders herausfordernd sei es, dass die Familienangehörigen, oft völlig unerwartet, mit der Tatsache konfrontiert werden, dass ihr Kind ein schweres Verbrechen begangen hat. «Der Schock ist umso grösser, wenn es sich um ein erstmaliges Delikt handelt.» Schliesslich würden die wenigsten Eltern ahnen, dass so etwas passieren könnte.

Ganze Gemeinschaft betroffen

Aber auch Schamgefühle und sozialer Druck lasten auf den Eltern. «In einem kleinen Dorf oder Quartier ist es besonders schwierig, mit einer solchen Situation umzugehen», sagt Dietz. Für alle Parteien. «Zuallererst für die Familie der Opfer, aber auch für die der Täter.»

Das sagt auch Monika Egli-Alge (66). Sie ist Psychologin und Gründerin des Forensischen Instituts Ostschweiz (Forio), das unter anderem Beratung für Angehörige straffällig gewordener Menschen anbietet. Sie erzählt von einer Mutter, die in einem mittelgrossen Dorf im Detailhandel arbeitete und ihre Stelle aufgab, weil sie sich nicht mehr in die Öffentlichkeit traute. «Sie war überzeugt, dass jeder im Dorf wusste, dass ihr Sohn in Untersuchungshaft ist – und dass alle über sie sprechen.»

Die Frage nach der Schuld

Auch sie berichtet von enormen emotionalen Belastungen, mit denen diese Familienangehörigen konfrontiert seien. «Sie sind in einem unglaublichen Ambivalenzkonflikt. Einerseits sind sie entsetzt, was ihrem Kind vorgeworfen wird, andererseits wollen sie es als Eltern verteidigen», erklärt Egli-Alge.

Hinzu kommen Schuldgefühle. «Eltern machen sich immer wieder Vorwürfe. Sie denken, sie hätten etwas falsch gemacht. ‹Wir hätten doch die Warnzeichen sehen müssen, wir hätten eingreifen müssen›, sagen sie», beschreibt die Psychologin.

Fakt ist: In der Schweiz sind Kinder ab zehn Jahren strafmündig. Das heisst, dass sie für ihre Taten selbst Verantwortung übernehmen müssen – nicht die Eltern. Sie sind aber Partei im Strafverfahren, dürfen an den Einvernahmen teilnehmen und können selbständig Rechte geltend machen.

Monate voller Ungewissheit

In den meisten Fällen laufe die Zusammenarbeit zwischen der Familie und der Jugendanwaltschaft gut, sagt Dietz. Das ist wichtig, denn: «Eltern sind die wichtigste Quelle zur persönlichen Situation des straffälligen Jugendlichen.» Während einer Strafuntersuchung führt der Sozialarbeiter mehrere Gespräche mit den Eltern. «Wir wollen ein möglichst rasches und vollständiges Bild, um die Informationen über die persönliche und schulische oder berufliche Situation richtig einordnen zu können», erklärt Dietz.

Das kann mehrere Monate dauern. In dieser Zeit wird der Jugendliche gegebenenfalls in einer geschlossenen Einrichtung untergebracht, um unabhängige Abklärungen zu ermöglichen. «Je schwerwiegender das Delikt, desto mehr Zeit nehmen wir uns, um Abklärungen zu machen.» Die Eltern müssen sich an den Kosten der von der Jugendanwaltschaft angeordneten Beobachtung wie auch allen anderen Schutzmassnahmen beteiligen.

Manchmal bleibt nur der Wegzug

Es sind Monate voller Ungewissheit. Wie kann man in dieser Situation als Familie und in der Gemeinschaft weiterleben? Und wie begegnet man der Familie des Opfers? Viele Täter-Eltern möchten sich entschuldigen, sagt Egli-Alge. Ob das möglich sei, müsse aber sorgfältig abgeklärt werden. Hier kann die Beratungsstelle versuchen, zu vermitteln: «Dazu vernetzen wir uns mit der Opferhilfe und schauen zusammen, ob eine Begegnung überhaupt möglich ist und die Eltern des Opfers bereit dafür sind.»

«Es gab bereits Fälle, in denen der Austausch zwischen den Familien des Täters und des Opfers erfolgreich funktioniert hat», sagt Egli-Alge, auch bei schweren Tötungsdelikten. In diesen Fällen blieben beispielsweise beide Familien weiterhin am gleichen Ort wohnen.

Je nach Schwere des Vorwurfs kann es jedoch unmöglich werden, sich wieder in die Gemeinschaft zu integrieren. In solchen Fällen bleibt oft nur der Schritt, wegzuziehen.

Zerreissprobe für die Gemeinschaft

Umzug oder nicht – der Bewältigungsprozess kann sich lange hinziehen. «Nicht selten führt dieser zu Spaltungen innerhalb der Familie», erklärt Psychologin Egli-Alge. In manchen Fällen beraten sie und ihr Team die betroffenen Familien in einzelnen Gesprächen, in anderen erstreckt sich die Unterstützung über mehrere Jahre.

Eine Tat wie diejenige von Berikon stellt eine Zerreissprobe dar. Für die Gemeinschaft, für die Angehörigen der Opfer, aber auch für diejenigen der Täter. Für Letztere gibt es laut Psychologin Egli-Alge noch zu wenig Unterstützungsangebote. Daher sei es wichtig, Bewusstsein zu schaffen und das Thema zu enttabuisieren. «Auch die Angehörigen der Beschuldigten sollten Beachtung finden.»

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