Behörden stoppten Abriss der Tschudy-Villa in Sissach BL
Warum die Villaleiche von Sissach einfach nicht beerdigt wird

Ein Weinhändler reisst seine Villa im Baselbiet beinahe ab. Die Polizei stoppt die Bagger. Seither wird der Staat vorgeführt.
Publiziert: 10:18 Uhr
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Aktualisiert: 10:48 Uhr
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Der Besitzer begann, das Haus ohne Bewilligung abbrechen zu lassen – dann kamen die Behörden.
Foto: © nicole pont / Tamedia AG

Darum gehts

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Daniel Faulhaber
Beobachter
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Die Villaleiche

Das grosse «WTF» begann an einem Donnerstagabend im Jahr 2022 im Feierabendverkehr bei Sissach BL. Da biss ein Bagger einer Villa das halbe Dach weg – und wurde dabei abrupt von heranbrausenden Polizeiwagen gestoppt. Männer standen herum und verwarfen die Arme, ein Riesenzoff im Basler Hinterland.

«WTF», schrieb jemand, der die Szene beobachtete, unter ein Foto auf Twitter, heute X. «What the fuck.»

Der Denkmalschutz hat in der Schweiz einen umstrittenen Ruf. Einerseits hütet er das kulturelle Erbe der Schweiz. Andererseits treibt er Hausbesitzer zur Weissglut und provoziert in manchen, wie in Sissach, anarchistische Energie.

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In Sissach wohnen knapp 7000 Menschen, aber ein Vielfaches davon, über 50’000, fahren jeden Tag mit dem Zug an der Gemeinde vorbei. Pendler kennen die Wahrzeichen entlang der Strecke. Den brutalistischen Turm am Bahnhof in Muttenz. Ein Schwimmbad in Gelterkinden.

An diesem Abend im April 2022 kam ein neues Wahrzeichen hinzu. Dieses alte Haus in Sissach nämlich, mit einem Loch im Dach. Eine Villaleiche, ein echter Lotterbau. Ein paar Wochen lang klaffte die Wunde ungeschützt in den Himmel. Dann wölbte sich plötzlich ein dünnes Baugerüst darüber.

Seither ist die Szene wie eingefroren. Und die Vorbeifahrenden wundern sich. WTF ist da los?

2

Das letzte Abendmahl

Die Verkäuferin eines Outdoorgeschäfts neben der Villa erinnert sich gut an den Abend, als die Posse begann. «Plötzlich war überall Staub in der Luft. Es hat gedonnert und gekracht. Erst rieselte Sand aus dem Himmel, dann kam die Polizei.»

Und die fuhr mit Blaulicht schnurstracks in einen schwelenden Konflikt zwischen Kanton und Hausbesitzer hinein. Der Eigentümer, ein Weinhändler namens Laurent de Coulon, besitzt die Parzelle samt Villa und angrenzendem Lagerhaus. Ein Potpourri aus Alt und Neu, ein architektonisches Kuddelmuddel.

Aber weil die Villa am Kopf des Ensembles beinahe 100 Jahre alt war, wurde sie von der kantonalen Denkmalpflege ins Bauinventar aufgenommen. Bis die Schutzwürdigkeit geklärt war, bestand ein «absolutes Veränderungs- und Beseitigungsverbot». Doch de Coulon verlor offenbar die Geduld. Der Mann, zirka 1,70 Meter gross, kurze Haare, wollte am Standort der Villa Wohnungen bauen, wie er der «BZ Basel» sagte. Die Auflagen der Denkmalpflege standen ihm dabei im Weg.

Peter Buser, Gemeindepräsident von Sissach, schnauft hörbar, als man ihn am Telefon auf de Coulons Baupläne anspricht: «Das Land ist Gewerbezone, über eine Umzonung muss erst noch die Gemeindeversammlung entscheiden.»

Vor allem aber gehe es nicht an, dass da einer tue, was ihm beliebt. Er fühle sich auf gut Deutsch «verarscht», sagt Buser. Dass der Bagger abends loslegte, als die zuständigen Personen schon im Feierabend waren, sei bestimmt kein Zufall gewesen. «So kurz vor drei Feiertagen fängt niemand, der es ernst meint, einen geordneten Rückbau an.»

Der 14. April 2022 war ein Gründonnerstag. Gläubige Christen denken dann an das letzte Abendmahl. In Sissach denken sie jetzt an de Coulon. Und an ein kaputtes Haus an den Gleisen.

Die Tschudy-Villa heute: eingerüstet und geschützt.
Foto: © nicole pont / Tamedia AG
3

Das Kalkül des Zerfalls

Zirka 1,8 Millionen Gebäude sind im Schweizer Wohnungsregister erfasst, fünf Prozent davon standen bei der letzten Erhebung 2022 unter Denkmalschutz. Denkmalschutz und Heimatschutz werden zwar oft synonym verwendet, aber während der Denkmalschutz die kantonalen Behörden bezeichnet, die sich um die Umsetzung kümmern, ist der Heimatschutz das Gesetz. Und dann gibt es noch den Schweizer Heimatschutz. Ein privater Verein, der sich um den Schutz historischer Gebäude bemüht.

Immer wieder fühlen sich Hausbesitzer vom Denkmalschutz bevormundet. Zum Beispiel im Engadin, Ende der 1980er-Jahre. In St. Moritz stand die Villa Böhler, gebaut 1916 bis 1918 vom deutschen Architekten Heinrich Tessenow. Bevor der Kanton Graubünden deren Schutzwürdigkeit ordentlich prüfen konnte, liess der neue Eigentümer Alfred Heineken das Haus überfallartig abbrechen.

ETH-Professoren zeigten sich in einem offenen Brief erzürnt über die «private Rüpelhaftigkeit im öffentlichen Raum von Rechtsempfinden und Kulturpflege».

In Illgau im Kanton Schwyz machte ein Hausbesitzer 2022 ein Holzhaus ohne Bewilligung dem Erdboden gleich, das mit Baujahr 1305 zu den ältesten in ganz Europa gehörte. Der private Heimatschutz beklagte die «mutwillige Zerstörung». In Illgau steht heute ein neues Chalet.

Das Kalkül ist in diesen und vielen weiteren Fällen stets dasselbe. Abreissen und Busse kassieren. Dann neu bauen und Rendite einstreichen.

Laut Martin Killias vom privaten Verein Schweizer Heimatschutz betragen Bussgelder in solchen Fällen bis zu 50’000 Franken. «Im Verhältnis zu den Kosten eines Neubauprojekts ist das Geld aus der Portokasse.»

Doch manchmal gehen die Pläne der Eigentümer nicht auf. In manchen Fällen urteilen Gerichte, dass kaputte Denkmäler originalgetreu wiederaufgebaut werden müssen. Das sei dann zwar nicht dasselbe wie das Original, sagt Killias. «Aber der Charakter bleibt erhalten.»

Und damit zurück nach Sissach. Aufgrund eines Gutachtens beschloss die Baselbieter Regierung 2024, die Tschudy-Villa definitiv als Kulturdenkmal zu schützen, das Haus müsste also wiederaufgebaut werden. Doch dagegen legte der Weinhändler Beschwerde ein. Der Streit landete im Juni 2025 vor Gericht.

4

Der Prozess

Im Gerichtssaal des Kantonsgerichts in Liestal steht eine kleine Lampe und misst, ob noch genug Sauerstoff in der Luft ist zum Atmen. «Solange die Lampe grün leuchtet, so lange machen wir hier weiter», erklärt der Kantonsrichter Daniel Ivanov. «Wenn die Lampe auf Rot wechselt, machen wir eine Pause.»

Die Sauerstoffampel der dritten Gewalt ist ein Relikt aus der Corona-Zeit. An diesem Tag wirkt sie wie eine Metapher dafür, wer hier den längeren Atem besitzt: der Kanton – oder doch der Weinhändler?

De Coulon sitzt rechts vor den fünf Richtern neben seinem Anwalt Michael Baader und einem Berater. Er trägt eine Steppweste über dem weissen Hemd. Links vor der Richterbank sitzt ein Mann von der kantonalen Denkmalpflege.

Dann beugen sich die fünf Richter über die Sache und rügen de Coulon scharf. «Was in einem Rechtsstaat nicht geht, ist, das Recht in die eigene Hand zu nehmen und sich über die Anweisungen der Behörden hinwegzusetzen», sagt Richter Daniel Ivanov.

Die Szene im April 2022 wird in verschiedenen Varianten noch einmal rekapituliert, wobei sich die Drastik in den Ausführungen der Richter von Mal zu Mal steigert. Von «Zerstörung» ist die Rede, dann von «Abriss», «Plattwalzen» und «Wüten».

Es sieht nicht gut aus für de Coulon. Doch dann folgt eine Überraschung. Das Gericht kommt zum Schluss, dass das Gutachten des Kantons nicht ausreichend beweise, dass die Villa geschützt werden müsse. Es brauche ein neues Gutachten, finden die Richter und schicken die Angelegenheit zurück an den Absender.

De Coulon nimmt das interessiert zur Kenntnis. Er nickt und notiert sich dies und das auf einem Blatt Papier. Er weiss: Je länger es drüben in Sissach in seine Villa hineinregnet, desto unwahrscheinlicher wird ein Wiederaufbau. Die Lampe im Gerichtssaal leuchtet noch grün, da ist die Beratung bereits wieder vorbei.

Der Hausbesitzer steht nach dem Prozess vor dem Saal und wirkt zufrieden. «Etappensieg», sagt er. Der Kanton sieht das anders. Das zuständige Amt hätte sich gewünscht, de Coulon hätte sich früher mit dem Denkmalschutz um eine Lösung bemüht. «Das wäre vermutlich für alle Beteiligten erheblich gewinnbringender gewesen, als sich mit einem langwierigen Rechtsstreit befassen zu müssen», sagt Mediensprecher Simon Rüttimann.

«Etappensieg»: Laurent de Coulon, Besitzer der Tschudy-Villa, nach dem Gerichtsurteil.
Foto: Alex Spichael/CH Media

Ob der Weinhändler denn plane, den neuen Gutachter in die Villa hineinzulassen, fragt ein Journalist nach dem Prozess. Dem letzten Experten habe er ja den Zutritt verwehrt und damit massgeblich dazu beigetragen, dass dieser kein besseres Urteil abgeben konnte.

De Coulon wiegt bedächtig den Kopf. Es sei schon «sehr, sehr gefährlich» da drin. Man müsse «einen dicken Helm» tragen. Der Kamin bröckle stark. Er würde niemandem raten, da hineinzugehen. Auf Nachfragen des Beobachters reagierte de Coulon nicht.

5

Ein doppeltes Denkmal

Und so lottert in Sissach das Haus weiterhin vor sich hin. Auf dem Vorplatz stapeln sich leere Weinflaschen in Plastikgebinden. Baselbieter Pinot noir. Bel-Œil, ein Weisswein. Über alledem wehen losgerissene Fetzen vom Baugerüst lose im Wind.

Die Verkäuferin im benachbarten Outdoorshop findet, das Haus sei «eine Geisterbude; wenn es windet, pfeift es aus allen Löchern». Ob die Leute im Dorf noch darüber reden? «Kaum. Es ist ein Schandfleck geworden.»

Hinter der Schallschutzmauer sieht man die Züge vorbeifahren. Auf der Terrasse eines angrenzenden Neubaus zieht jemand an einer elektronischen Zigarette. Es ist ganz still. Wenn die Sache in diesem Tempo weitergehe, sagte ein Richter während der Urteilsberatung in Liestal, dann stehe irgendwann auch das provisorische Gerüst über der Villa unter Denkmalschutz.

Es wäre vielleicht das erste Denkmal der Schweiz, das ein Denkmal schützt, von dem nicht klar ist, ob es überhaupt ein Denkmal ist.

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