Zahl der jungen IV-Bezüger nimmt zu
«Das ganze Rentensystem könnte kollabieren»

Die Invalidenversicherung in der Schweiz ist unter Druck. Ein starker Anstieg junger Bezüger mit psychischen Erkrankungen belastet das System. Der Präsident der Stiftung Pro Mente Sana warnt nun vor einem möglichen Kollaps.
Publiziert: 10:41 Uhr
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Aktualisiert: 11:40 Uhr
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Die Invalidenversicherung ist bereits seit Jahren im Brennpunkt.
Foto: Keystone

Darum gehts

  • IV-System könnte kollabieren. Psychiater warnt vor riesiger Welle junger Bezüger
  • Taskforce und frühe Prävention als mögliche Lösungsansätze vorgeschlagen
  • Schizophrenie beginne heute bei Männern und Frauen zehn Jahre früher
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Joschka SchaffnerRedaktor Politik

Die Invalidenversicherung (IV) in der Schweiz wankt. Seit Jahren schrumpft der Ausgabentopf, die Schulden nehmen zu. Dazu kommt viel Kritik rund um fehlerhafte Patientengutachten. Und aktuell wird das System auch noch durch einen grossen Anstieg junger Bezügerinnen und Bezügern belastet.

Die kommenden Jahre könnten die IV nun ganz an den Abgrund drängen: Bei den jungen Menschen mit psychischen Erkrankungen stehe man heute erst am Anfang einer «riesigen Welle», warnt Psychiatrie-Chefarzt Thomas Ihde (57).

Keine IV-Renten unter 30?

Ihde ist Präsident der Stiftung Pro Mente Sana, die sich für die psychische Gesundheit in der Schweiz einsetzt. Im Interview mit den Tamedia-Zeitungen warnt er deutlich: «Wir befürchten, dass das ganze Rentensystem in ein paar Jahren kollabieren könnte.» Denn der grosse Anstieg folge noch.

Auch der Bundesrat erkennt die psychische Gesundheit bei jungen Menschen als Brennpunkt an: Im Zuge der nächsten IV-Revision soll die Situation verbessert werden, kündigte die Landesregierung letzte Woche an.

Zuvor forderte Thomas Pfiffner, Vizepräsident der IV-Stellen-Konferenz (IVSK), dass der Bundesrat prüfen soll, die Renten für Menschen unter 30 Jahren zu streichen. Ersatzweise soll die IV eine tiefere Entschädigung zahlen. Diese wäre zudem an Bedingungen wie niederschwellige Integrationsmassnahmen oder Behandlungen geknüpft.

Taskforce könnte die Lösung sein

Psychiater Ihde erkennt zwar an, wie wichtig vor allem gute Hilfeleistungen sind: «Wenn man junge IV-Bezüger fragt, was ihnen wichtig ist, dann sagen sie, dass sie auf dem ersten Arbeitsmarkt arbeiten möchten.» Eine Streichung der Rente sei aber bedenklich. «Wir dürfen nicht noch mehr Druck auf junge IV-Bezüger ausüben, das ist kontraproduktiv, die Angst wirkt lähmend. Was diese Menschen brauchen, ist soziale und finanzielle Sicherheit», sagt Ihde.

Für den Präsidenten von Pro Mente Sana braucht es zudem ein «unschweizerisches Tempo», um die Herausforderung zu meistern. Er schlägt eine breit abgestützte Taskforce vor, wie es sie etwa während der Corona-Pandemie gab. Und die Kantone müssten endlich konsequent handeln, um den Fachkräftemangel bei Psychiaterinnen und Psychotherapeuten zu tilgen.

Zudem müsse früher angesetzt werden – etwa bei der Prävention bei Kindern und Jugendlichen. «Schwergradige psychische Krankheiten beginnen immer früher», sagt Ihde. Eine Schizophrenie fange heute bei Männern und Frauen zehn Jahre früher an als noch vor 30 Jahren.

Jugendliche haben es heute schwieriger

Gleichzeitig widerspricht Ihde der Ansicht, dass die Zunahme der Fälle damit zusammenhänge, dass psychische Probleme heute enttabuisiert würden. «Wer eine Rente zugesprochen bekommt, ist lange und schwer krank», stellt Ihde klar. «Niemand entwickelt plötzlich Symptome einer Schizophrenie, nur weil heute mehr Menschen in den sozialen Medien über ihre Angststörungen reden.»

Vielmehr seien die heutige Leistungsgesellschaft und Arbeitswelt für die Jugend deutlich herausfordernder geworden als noch vor einigen Jahrzehnten. «Unsere Welt ist extrem kopflastig geworden», sagt Ihde. «Wir sind alle Hochleistungssportlerinnen und -sportler im Bereich Psyche.»

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