«Ich brauche 3,5 Stunden nach Bern»
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Grenzgänger-Nationalrat Berli:«Ich brauche 3,5 Stunden nach Bern»

Weil er in der Schweiz keine Wohnung findet
Dieser neue Nationalrat musste ins Ausland zügeln

Rudi Berli wird in der Wintersession als Grünen-Nationalrat vereidigt. Der Zürcher Gemüsegärtner wurde in seiner politischen Heimat Genf gewählt, wohnt aber in Frankreich. Das sorgte bereits für Kritik. Wir begleiten ihn auf seiner langen Reise nach Bern.
Publiziert: 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 01:08 Uhr
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Der neue Nationalrat Rudi Berli wohnt seit einigen Jahren in Frankreich.
Foto: Raphaël Dupain

Darum gehts

  • Rudi Berli: Neuer Genfer Nationalrat mit Wohnsitz in Frankreich
  • Berli will Anliegen der Grenzgänger und Auslandschweizer im Parlament vertreten
  • Über 100'000 Grenzgänger pendeln täglich von Frankreich nach Genf
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.

Rudi Berlis (62) Reise nach Bern ist lang und beginnt mit der Überquerung der Landesgrenze. Der neue Genfer Nationalrat wohnt nämlich in Frankreich. Aufgewachsen ist er in Zürich und hat später viele Jahre in Genf gewohnt. Er rückt in der anstehenden Wintersession für den in den Genfer Staatsrat gewählten Nicolas Walder (59, Grüne) nach.

Um 8.35 Uhr schlägt Berli beim Bahnhof La Plaine in Genf die Tür seines Dacia zu. Den Weg von seinem Wohnort Pougny (F) bis hier legt er mit dem Auto zurück – rund zehn Minuten. Den Rest der dreistündigen Reise fährt er mit dem Zug. Blick begleitete ihn auf dem Weg zu seiner ersten Fraktionssitzung bis zum Bundeshaus.

Rudi Berli fährt aus dem französischen Pougny mit dem Auto bis zum Bahnhof La Plaine in Genf.
Foto: Raphaël Dupain

Kein Jetset-Leben

Berli ist erst das vierte Parlamentsmitglied mit Wohnsitz im Ausland. Vor ihm wurde 2015 etwa der ehemalige Botschafter Tim Guldimann (75), wohnhaft in Berlin, in die grosse Kammer gewählt. Nach zwei Jahren warf er das Handtuch – das Mandat in Bern sei aus dem Ausland kaum machbar.

«Ich werde kein Jetsetter-Leben führen», sagt Berli. Auch an diesem Abend wird er in Bern bleiben, um sich nach einer Wohnung umzusehen. Neben seinem Mandat will Berli weiterhin als Gemüsebauer arbeiten. Er pendelt jeden Tag von Frankreich zu seinem Arbeitsplatz bei einer Kooperative im Kanton Genf – so wie über 100’000 andere Frontaliers.

Nach Frankreich gezogen ist er 2019. «Die Wohnungsknappheit hat mich dazu bewogen», sagt er. «Ich wollte auf dem Land wohnen.» Das werde immer mehr zu einem Luxus für wenige – mit seinem Budget sei es unmöglich gewesen. «Schliesslich bin ich in Frankreich fündig geworden.»

Die Anliegen der Grenzgänger und Auslandschweizerinnen will Berli auch in Bern vertreten. «In erster Linie bin ich natürlich Genfer Nationalrat. Aber insgesamt gibt es über 800’000 Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer. Mit mir haben sie nun einen Vertreter im Parlament. Und Grenzgänger zu sein, gehört zu meiner Realität.»

Grenzübergreifende Perspektive

Beim Bahnhof La Plaine trifft Berli auch schon auf ein erstes politisches Ärgernis der Grenzregion. «Genf hat ein massives Problem mit Mobilität», so Berli. «Dies hier ist der erste Genfer Bahnhof, täglich fahren 88 Züge in die Stadt. Aus meiner Wohngemeinde Pougny, dem ersten Ort in Frankreich, sind es nur 18. Die Stadt wird also mit Autos geflutet.» Man müsse Themen wie Mobilität und Wohnungsknappheit grenzübergreifend denken. Mit dieser Perspektive wolle er auch in Bern Politik machen.

Draussen liegt der erste Schnee.
Foto: Raphaël Dupain

Kürzlich hat ein Entscheid zur Grenzregion Frankreich-Schweiz für internationale Schlagzeilen gesorgt – sogar Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron (47) hat sich bei Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter (61) beschwert. Im Juni kündigte der Genfer Staatsrat an, dass Kinder von Grenzgängern ab Sommer 2026 nicht mehr an Schweizer Schulen unterrichtet werden sollen. Betroffen sind knapp 2500 Kinder – auch Berlis.

«Eine meiner Töchter ist derzeit in der Oberstufe», so Berli. «Sie müsste nächsten Herbst in eine Schule in Frankreich wechseln – obwohl sie ihre ganze Schulkarriere in der Schweiz gemacht hat, ihr soziales Umfeld hier ist und sie auch ihre berufliche Zukunft in der Schweiz sieht.» Politisch aktiv werde er deswegen wohl nicht – Bildungspolitik sei Sache des Kantons. Trotzdem sei es wichtig, diese Themen auch in Bundesbern anzusprechen.

Soll die Wertfreigrenze erneut gesenkt werden?

9.12 Uhr, kurzer Zwischenhalt am Bahnhof Genf. Berli holt sich Kaffee und Gebäck. Den Weg nach Bern nutzt er, um die Fraktionsunterlagen zu studieren, die in einem pinken Mäppli mit Kinderzeichnung stecken. Ab und zu nickt er oder murmelt etwas.

Am Bahnhof Genf gibts eine kleine Verstärkung.
Foto: Raphaël Dupain

Die Vorfreude auf Bern sei gross, sagt er. Seit zwanzig Jahren ist Berli bei der Bauernorganisation Uniterre aktiv, die sich für nachhaltige, kostendeckende und solidarische Landwirtschaft einsetzt. In dieser Zeit hat sich bei ihm einiges an politischem Handlungsbedarf aufgestaut. Das merkt man, wenn Berli über sein zentrales Dossier, die Landwirtschaftspolitik, spricht. Schnell springt er von Thema zu Thema, hat grosse Visionen.

Etwa die Allianz des Bauernverbands mit den grossen Wirtschaftsverbänden ist ihm ein Dorn im Auge. Ob er sich dabei auch mit dem obersten Bauern Markus Ritter (58) anlegen will, der die Allianz mitgeschmiedet hat? Berli gibt sich diplomatisch. Er wolle «mit Ritter gemeinsam Antworten zu den Bauernopfern finden, die die grossen Wirtschaftsverbände im Namen der Wirtschaftswettbewerbsfähigkeit der Schweiz forcieren».

Auch die Schweizer Einkaufstouristen sorgen bei Berli für Unmut. «Gesund essen und qualitativ hochwertige Nahrungsmittel sollten nicht für Wohlhabende reserviert sein.» Genau deshalb müsse man die Nachfrage in der Schweiz unterstützen und hier einkaufen. «Bei guten Preisen und Nachfrage werden Bäuerinnen und Bauern auch nachhaltiger produzieren.»

Kritik aus dem eigenen Kanton

Als Berli um 11.26 Uhr in Bern ankommt, liegt der erste Schnee auf den Dächern der Hauptstadt. Schon im Vorfeld hat seine Ankunft in Bern Gegenwind ausgelöst – und zwar vom Genfer Nationalratsgspänli Daniel Sormanni (75, MCG). In den sozialen Medien schoss er gegen Berli. Und gegenüber «Swissinfo» doppelte er nach: Seiner Meinung nach sei Rudi Berli kein «richtiger Grenzgänger», da er Schweizer sei. Weiter fände er es kurios, ins Parlament gewählt zu werden, wenn man im Ausland wohne. Weil es aber legal und demokratisch sei, akzeptiere er es.

Rund dreieinhalb Stunden später: Angekommen in Bern vor dem Bundeshaus.
Foto: Raphaël Dupain

Berli winkt ab. Er habe eine spezielle Funktion. «Mit meiner Geschichte und Herkunft bin ich ein legitimer Volksvertreter.» In Zürich aufgewachsen, lange in Genf wohnhaft, lebe er jetzt die Realität von Tausenden Grenzgängern der Schweiz. «Da kann niemand sagen, ich sei kein Schweizer.»

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