Darum gehts
- Bundesrat will Adressenweitergabe bei Anzeigen stoppen
- Beschuldigte können derzeit Adressen von Anzeigeerstattern erfahren
- Nur 8 Prozent der Frauen erstatten nach sexueller Gewalt Anzeige
Es hört sich an wie ein schlechter Scherz, ist aber Realität: Wer beispielsweise nach einer Belästigung den Mut fasst, zur Polizei zu gehen und Anzeige zu erstatten, läuft Gefahr, dass der mutmassliche Täter die Adresse erfährt – schwarz auf weiss, direkt ausgehändigt von der Staatsanwaltschaft. Das ist derzeit gängige Praxis bei vielen Strafbehörden.
Dem möchte der Bundesrat nun den Riegel schieben. SP-Nationalrätin Tamara Funiciello (35) und ihre liberale Ratskollegin Patricia von Falkenstein (64, LDP) reichten im September gemeinsam einen Vorstoss ein. Darin fordern sie, dass die Strafprozessordnung entsprechend geändert wird. Der Bundesrat hat den Vorstoss dem Parlament inzwischen zur Annahme empfohlen.
Beschuldigte dürfen Akten anschauen
Die beiden Politikerinnen fordern, dass die Wohnadresse von Klägerinnen und Klägern nicht mehr automatisch in den Verfahrensakten erscheint. «Die Adresse soll nur noch offengelegt werden, wenn die beschuldigte Person ein berechtigtes Interesse nachweisen kann», sagte von Falkenstein bei Einreichung der Motion zu Blick.
Warum ist das derzeit überhaupt so? Für eine Anzeige sei immer grundsätzlich eine geschädigte Person notwendig, heisst es bei der Kantonspolizei Aargau auf Anfrage. Diese müsse bekannt sein und im Rapport aufgenommen werden, so Kapo-Medienchef Dominic Zimmerli. Das schreibe die Strafprozessordnung so vor. «Wer beschuldigt wird, darf dann die Akten anschauen.» Und neben dem Namen werde eben auch die Adresse in den Akten aufgeführt.
Angst vor weiterer Belästigung
Zimmerli räumte gegenüber Blick ein, dass diese Praxis durchaus dazu führen kann, dass Betroffene von einer Anzeige absehen – etwa weil sich Nachbarn nicht exponieren wollen oder weil Opfer von häuslicher Gewalt oder Stalking Angst vor weiterer Belästigung haben.
Bei der Kantonspolizei Bern hiess es auf Anfrage wiederum: Ob Schutzmassnahmen ergriffen werden, hänge vom Einzelfall ab.
Voraussetzung für eine Anonymisierung sei, dass die betroffene Person ohne Schutzmassnahme einer erheblichen Gefahr für Leib und Leben oder einem anderen schweren Nachteil ausgesetzt wäre. «Dies kann bei schweren Fällen von häuslicher Gewalt der Fall sein», so Jessica Friedli von der Kantonspolizei Bern.
Viele verzichten auf Anzeige
Für Funiciello ist die heutige Gesetzgebung unverständlich. «Wer Opfer von Gewalt wird, darf nicht noch zusätzlich gefährdet werden, nur weil ihre Adresse automatisch in den Akten landet», sagte sie. Mit der Motion wolle sie zudem dafür sorgen, dass Opfer aus Angst vor Repressalien nicht auf das Einreichen einer Anzeige verzichten, sagt von Falkenstein.
Eine Studie von GFS Bern aus dem Jahr 2019 zeigt: Nur rund 10 Prozent der Frauen, die sexuelle Gewalt erlebt haben, meldeten dies der Polizei. Strafanzeige erstatteten lediglich 8 Prozent. Die Gründe dafür sind vielfältig. Funiciello und von Falkenstein wollen zumindest jene beseitigen, die das Einreichen einer Anzeige selbst zum Risiko machen.