Die neuen EU-Verträge werden nicht ohne Folgen bleiben. 690’000 EU-Bürgerinnen und -Bürger wären fünf Jahre nach Übernahme der neuen Personenfreizügigkeitsregeln auf einen Schlag berechtigt, in der Schweiz ein Daueraufenthaltsrecht zu beantragen. Das schätzen Experten im Auftrag des Bundes. Während die Wirtschaft frohlockt, warnen die Gegner des EU-Deals vor einer Einwanderung in den Sozialstaat.
Tatsächlich müsste die Schweiz künftig grosszügiger sein mit EU-Zuwanderern, die Sozialhilfe beziehen. Integrationskriterien, die es für eine Niederlassungsbewilligung braucht, spielten für den Erhalt des Daueraufenthaltsrechts keine Rolle, berichtet der «Tages-Anzeiger». Man müsste fünf Jahre hierzulande gearbeitet haben, wobei das Arbeitspensum nicht klar definiert ist. Aber: Auch wer kein Wort Deutsch, Französisch oder Italienisch spricht, kann für immer bleiben.
Jährliche Mehrkosten von über 100 Millionen
Für die Folgejahre rechne der Bund mit jährlich bis zu 70'000 weiteren möglichen Kandidaten, wobei längst nicht alle Berechtigten das Daueraufenthaltsrecht beantragen dürften. Dieses wäre vorab für jene lohnenswert, die in Niedriglohnjobs arbeiten. Oder für solche, die ein erhöhtes Risiko hätten, arbeitslos oder sozialhilfeabhängig zu werden.
So dürften jedes Jahr bis zu 20'000 Personen ein Daueraufenthaltsrecht beantragen, die zuvor arbeitslos waren und sich um eine Stelle bemühten, oder während einer kurzen Zeit Sozialhilfe bezogen. Wer das Daueraufenthaltsrecht einmal besitzt, verliere es nicht mehr – auch nicht, wenn man Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe bezieht.
Sollten die Verträge in Kraft treten, rechne der Bund deshalb mit 3000 bis 4000 zusätzlichen Sozialhilfefällen in der Schweiz pro Jahr. Die damit verbundenen Mehrkosten schätze er auf bis zu 74 Millionen Franken, schreibt der «Tages-Anzeiger». Hinzu kämen Mehrausgaben von jährlich rund 7 Millionen für zusätzliche Ergänzungsleistungen und bis zu 22 Millionen pro Jahr für zusätzliche Anmeldungen registrierter Arbeitsloser.
Kantone erwarten Unterstützung vom Bund
Für die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe seien die Schätzungen plausibel. Dass die Sozialhilfe wegen der neuen EU-Verträge überrannt werde, sei unwahrscheinlich. Erwartet würden keine Leute, die chancenlos seien auf dem Arbeitsmarkt.
Dennoch versuchen sich die Kantone abzusichern: Sie fordern vom Bund ein Sozialhilfe-Monitoring, um zu merken, wenn Sozialhilfekosten aus dem Ruder laufen. Und es brauche Entschädigungen für den Mehraufwand der kantonalen Ämter. Bezahlen solle dies der Bund.
Die Bundesbehörden zeigten sich jedoch überzeugt, dass es genügend Hürden gebe, um eine Einwanderung in den Sozialstaat zu verhindern. So könne die Schweiz den freien Personenverkehr künftig vorübergehend einschränken, wenn durch die Zuwanderung «schwerwiegende wirtschaftliche oder soziale Probleme» entstünden.
Dafür muss die Schweiz an ein Schiedsgericht gelangen. Der «Tages-Anzeiger» verweist auf Aussenminister Ignazio Cassis (64), der diese sogenannte Schutzklausel als besondere Errungenschaft in den neuen EU-Verträgen hervorgehoben hat. Die Kritiker lassen sich dadurch allerdings nicht besänftigen.