Die Schweizer Politik verschläft die Frage der Nation – der Wochenkommentar
Zuwanderung, SVP-Initiative und EU-Deal – wer entschärft diese Bombe?

Die SVP will die Zuwanderung mit einer radikalen Initiative stoppen. Die anderen Parteien lehnen ab, liefern aber keine Alternative. Ein Fehler. Wer beim Thema Migration nur zuschaut, riskiert mehr als nur noch einen Scherbenhaufen beim EU-Abkommen.
Publiziert: 00:01 Uhr
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Darum gehts

  • Die 10-Millionen-Initiative soll Migration begrenzen
  • Bei einem Ja ist das EU-Abkommen praktisch tot
  • Zuwanderung selber steuern, ohne Europa verlieren – geht das?
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Rolf CavalliChefredaktor Blick

Die sogenannte «Nachhaltigkeits-Initiative» klingt harmlos – ist aber ein Sprengsatz der SVP. Besser bekannt als «10-Millionen-Initiative».

Die Vorlage, die nächstes Jahr vors Volk kommt, will das Bevölkerungswachstum bremsen: Sobald die Schweiz 10 Millionen Einwohner zählt, soll der Bundesrat die Personenfreizügigkeit mit der EU kündigen. Das Freizügigkeitsabkommen wäre damit Geschichte – das geplante EU-Abkommen praktisch tot, bevor das Volk auch darüber abstimmt. 

Die SVP kann fast nur gewinnen: Entweder sie setzt sich mit der Initiative direkt durch – oder sie legt nach, wenn das EU-Abkommen zur Abstimmung kommt. 

SVP-Gegner: Lieber gemeinsam untergehen

Und die Gegenseite? Planlos. Kein koordinierter Gegenvorschlag, kein gemeinsames Vorgehen – nur Einzelideen, parteipolitisches Taktieren.

Ex-Mitte-Präsident Gerhard Pfister (63) bringt einen sanften Gegenvorschlag – bleibt aber allein auf weiter Flur. Gewerkschaftsboss Pierre-Yves Maillard (57, SP) fordert höhere Löhne, bessere Betreuung, Integration – chancenlos bei den Bürgerlichen. Statt zusammen eine Lösung zu schmieden, verliert man sich im Klein-Klein. Lieber gemeinsam untergehen, als dem anderen einen Etappensieg gönnen.

Dabei wäre eine gemeinsame Antwort auf die 10-Millionen-Initiative nötig. Nicht einfach, um das EU-Abkommen zu retten – sondern aus Respekt vor den Sorgen der Bevölkerung. Die sind real: Wohnungsnot, Dichtestress, überlastete Infrastrukturen. Und das längst nicht nur bei jenen, die notorisch gegen Zuwanderung polemisieren. Immer mehr Menschen empfinden: Es wird eng – ganz ohne das Wort Überfremdung.

Von deutschen Verhältnissen ist die Schweiz entfernt. Gerade darum wäre jetzt der Moment, das Thema ernsthaft und differenziert anzugehen. In Deutschland sorgt Kanzler Friedrich Merz für Aufregung, weil er das veränderte «Stadtbild» kritisiert: Migranten ohne Bleiberecht, ohne Arbeit, ohne Integration.

Weder EU verteufeln, noch Migration schönreden

Genau einem solchen Kipppunkt sollte die Schweiz zuvorkommen – bevor er auch hier politischen Sprengstoff liefert. Dass die SVP das Thema instrumentalisiert, ist kein Grund, es zu tabuisieren.

Natürlich bringt Zuwanderung Chancen. Die Wirtschaft profitiert – bei Fachkräften, im Gesundheitswesen, in der Forschung. Auch unser Wohlstand ist migrationsgetrieben. Aber die Bevölkerung wächst schnell: mehr Menschen, mehr Verkehr, höhere Mieten. Wer das ignoriert, redet an der Realität vorbei.

Und doch passiert genau das in Bern. Der Bundesrat lehnt die SVP-Initiative zusammen mit einer grossen Mehrheit im Nationalrat ab – zu Recht zwar. Denn sie ist zu radikal, hat zu grosses Schadenspotenzial. Aber ein Alternativvorschlag? Fehlanzeige. Man hofft, das Volk werde schon vernünftig genug sein. 

Ist das klug – oder Ausdruck politischer Realitätsferne? Gerade jene Gruppe in der Gesellschaft, die weder die EU verteufelt noch die Zuwanderung schönredet, wartet auf Antworten: Sie will keine Dogmen, sondern Lösungen – mit Augenmass bei der Migration und Offenheit gegenüber Europa.

Letzte Chance zur Bomben-Entschärfung

Nun kommt die SVP-Initiative in den Ständerat. Dort besteht die letzte Chance, das Dynamitpaket zu entschärfen. Der «Chambre de Réflexion» ist mehr zuzutrauen als dem Nationalrat. Gefragt ist ein intelligenter Gegenvorschlag, ein Paket mit Vernunft, Herz und Handlungsfähigkeit. Sonst bleibt nur die Wahl zwischen Schwarz und Weiss.

Was, wenn das Volk erst die 10-Millionen-Initiative annimmt und später auch zum EU-Vertrag Ja sagt? Dann kracht es: Verfassungsbruch? Chaos? Oder beides?

Eines ist sicher: Wer den Sprengsatz nicht entschärft, darf sich nicht wundern, wenn er hochgeht.

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