Darum gehts
- Schweiz wird vielfältiger: Die Zahl der Personen mit Migrationshintergrund steigt
- Städte ziehen hoch qualifizierte EU-Arbeitskräfte an, Spannungen mit ländlichen Gebieten steigen
- 59 Prozent der Kinder zwischen 7 und 14 Jahren haben mindestens einen ausländischen Elternteil
Die Schweiz besteht längst nicht mehr nur aus Schweizern. Das zeigen neue Zahlen des Bundes. In Genf haben bereits 66 Prozent der Bevölkerung über 15 Jahren einen Migrationshintergrund. Auch in Basel, in der Waadt und im Tessin hat mehr als die Hälfte der Bevölkerung Migrationshintergrund. Das bedeutet: Sie sind selbst im Ausland geboren oder haben mindestens einen Elternteil, der im Ausland zur Welt kam. Auch Eingebürgerte gehören dazu.
Über die gesamte Schweiz gesehen sind es 41 Prozent der Bevölkerung, die einen Migrationshintergrund haben. Rund 80 Prozent davon sind im Ausland geboren, das sind 2,45 der 9 Millionen Menschen in der Schweiz.
Ganga Jey Aratnam (52) ist Soziologe und Migrationsforscher. Er ist eingebürgert, lebt seit bald 30 Jahren vor allem der Liebe wegen in der Schweiz – und sagt: «In anderen Ländern hätten wir bei diesen Zahlen Bürgerkrieg.» Die Schweiz könne stolz sein, dass sie die Integration so gut meistere.
Warum klappt es in der Schweiz? Wie verändert die Migration das Land? Welche Probleme gibt es? Neun Erkenntnisse zur Migration, die mit der Abstimmung über den EU-Deal und die 10-Millionen-Schweiz die politische Debatte der nächsten Jahre prägen wird.
Das Einwanderungsland, das keines sein will
Vielen Schweizerinnen und Schweizer ist nicht bewusst, wie sehr die Schweiz ein Einwanderungsland ist. Bei Befragungen unterschätzen sie die Zuwanderung regelmässig. «Viele Einheimische haben nicht realisiert, wie stark sich die Schweiz seit den 1990er-Jahren entwickelt hat», sagt Jey Aratnam. So kennt man auch die grossen Rohstoffkonzerne kaum, die fast heimlich zu den grössten Schweizer Unternehmen wurden.
Ein Grund für das verzerrte Bild: Während die Schweiz vielfältiger wird, bildet sich dies in der Politik und der Verwaltung kaum ab. Letztere sind stark von Einheimischen geprägt.
Die Schweizer sind im Sandwich
Oben und unten sind Ausländer, dazwischen die Schweizer. So stellt sich das Bild laut Jey Aratnam zugespitzt dar. Es gibt Niedriglohnjobs, die Schweizer nicht machen wollen.
Gleichzeitig ist die Zahl der Ausländer in den Führungsetagen der Börsenkonzerne oder unter den Uniprofessoren sehr hoch. Ein Grund dafür: Der Anteil an Gymnasiasten ist in der Schweiz tief. Gleichzeitig machen mehr Frauen als Männer die Matura. Die Schweizer Frauen werden später aber öfter Teilzeit arbeiten als Akademikerinnen in anderen Ländern.
Asylbereich: Besser als gedacht?
Ganga Jey Aratnam hat eine Veränderung in der Migrationsdiskussion festgestellt. «Wirtschaftsfreundliche Parteien wie die FDP zielen stärker in Richtung Asyl als früher.» Hoch qualifizierte dagegen holt man bewusst. Das sei nicht ganz ehrlich, sagt Jey Aratnam. «Die Schweizer Wirtschaft braucht auch unzählige nicht hoch qualifizierte Menschen. Die KI ersetzt kein Küchenpersonal im Restaurant.» Dieses Personal finde man teils auch über das Asylsystem. Die gute Integration sei eigentlich Teil des Schweizer Erfolgsmodells gewesen. Die zunehmende negative Fokussierung auf das Asylwesen gefährde die Integration, etwa von vorläufig Aufgenommenen, für die Massnahmen gestrichen werden. Dies könne in einigen Jahren zu Problemen führen.
Das Heiraten wird unterschätzt
Bei mehr als der Hälfte der Hochzeiten hat mindestens ein Partner oder eine Partnerin keinen Schweizer Pass. «Das ist eine massive Öffnung der Schweiz gegen aussen.» Über die Landesgrenze hinaus heiraten würden alle – auch SVP-Wähler. Gerade die Frauen seien offen gegenüber den meisten Nationalitäten, Schweizer Männer fokussieren sich tendenziell auf gewisse Nationen.
Die Städte heben ab
Die Personenfreizügigkeit ist laut Jey Aratnam «ein sehr städtisches Phänomen». Gut ausgebildete Arbeitskräfte aus dem EU-Raum ziehen in urbane Gegenden, die wirtschaftlich noch mächtiger werden. Städte stossen an ihre Grenzen durch die neue Migration und moderne Lebensformen wie Einpersonenhaushalte. Mieten steigen.
Der Schweizer Föderalismus hat für Städte wenig Möglichkeiten vorgesehen, damit diese ihre Anliegen steuern können.
Der Diversität wird in den stark links geprägten Zentren sehr viel Gewicht gegeben. In den Städten setzten sich dabei Anliegen durch, die auf dem Land keine Chancen hätten. So steigen die Spannungen zwischen Stadt und Land.
Es gibt auch den Dünnestress
Wer sich in Zug trennen oder scheiden lässt, kann Mühe bekommen, dass er sich noch eine eigene Wohnung leisten kann. Einheimische ohne grosses Portemonnaie werden verdrängt. Doch während an einigen Orten Dichtestress und hohe Mietpreise herrschen, gibt es auch den «Dünnestress»: Kantone, die kaum wachsen. Berggebiete kämpfen mit der Abwanderung, Schulen werden geschlossen, weil es zu wenig Kinder hat. Jey Aratnam fragt sich, ob es nicht einen besseren Ausgleich bräuchte zwischen den stark boomenden Kantonen und den anderen. Im Asylbereich etwa werde sehr stark geschaut, dass es bei der Verteilung der Asylsuchenden einen fairen Ausgleich zwischen den Kantonen gebe. «Die privilegierte Migration will man in der Schweiz aber nicht steuern.»
Das Erfolgsgeheimnis: Die Schweiz kann gut organisieren
Migration habe immer ein Spannungspotenzial, sagt Jey Aratnam. Warum gelingt der Schweiz die Integration so vieler Menschen relativ reibungslos? Der Soziologe nennt mehrere Gründe:
- Die Schweizer seien grundsätzlich sehr gut im Managen von Problemen.
- Im Alltag zeigten Schweizerinnen und Schweizer einen gesunden Pragmatismus. Gerade Gewerbler seien zwar häufig politisch migrationskritisch eingestellt. Im Alltag aber sind sie es, die Ausländer anstellen und sehr gut integrieren.
- Die Investitionen in die Integration sind solide. «Im Gegensatz zu anderen europäischen Staaten sind die Schweizer keine Erbsenzähler. Das lohnt sich.»
- Die Konkordanz dämpft Extreme. In der direkten Demokratie werden Probleme ausgehandelt. Dabei zeigten die Schweizerinnen und Schweizer durchaus einen Sinn für den gesellschaftlichen Ausgleich.
Die «versteckten» Ausländer
Zu wenig beachtet wird laut Jey Aratnam das Grenzgänger-Phänomen. Die 400'000 Grenzgänger sind ebenfalls Teil der Schweiz, ohne dass sie in einer Ausländerstatistik erscheinen. «Die Zahl ist sehr hoch», sagt der Forscher. Er sieht die Entwicklung kritisch. «Die Grenzgänger zahlen die Sozialleistungen und die meisten Steuern im Herkunftsland.» Die betroffenen Regionen wie Genf oder das Tessin würden nicht genügend in Infrastruktur, Arbeitsmarkt und Ausbildung investieren, weil es eben die Grenzgänger gibt. Fehlen die Grenzgänger aber einmal, hätte das Tessin etwa kaum genügend Pflegepersonal. Gleichzeitig werde der Südkanton zu einem Altersheim. Junge ziehen weg.
«Einheimische fühlen sich durch die Grenzgänger benachteiligt, aber rein wirtschaftlich gibt es kein Bedürfnis, ihnen entgegenzukommen», sagt Jey Aratnam. Für den Forscher ist es kein Zufall, dass im Tessin die Lega und in Genf das Mouvement Citoyen Genevois entstanden sind. Schweizerinnen und Schweizer mit kleinerem Portemonnaie würden diese wählen, da ihre Jobs und die Löhne bedroht sind. In den beiden Parteien fänden sie einerseits das Soziale, das ihnen bei der SVP fehlt – und das Migrationskritische, das die SP oder die Grünen kaum bieten.
Das Ende ist nicht erreicht
Die Schweiz wird noch vielfältiger werden: 2022 hatten 59 Prozent aller Kinder zwischen 0 und 6 Jahren mindestens einen Elternteil, der im Ausland geboren ist. In den nächsten Jahren wird der Anteil von Personen mit Migrationshintergrund in der Statistik weiter steigen. Damit altert die Schweiz weniger rasch als etwa Italien – und im Unterschied zu Europa schrumpft die Schweizer Bevölkerung nicht.