«Wir können uns derzeit keine Grossanlässe leisten»
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Epidemiologe Marcel Tanner:«Wir können uns derzeit keine Grossanlässe leisten»

Taskforce-Mitglied Marcel Tanner erklärt, worauf es jetzt ankommt
«Wir können uns derzeit keine Grossanlässe leisten»

Der Epidemiologe Marcel Tanner (67) ist seit Beginn Mitglied der Corona-Taskforce. Der FCB-Fan erklärt, wie wir in die zweite Welle geschlittert sind und wie wir wieder rauskommen.
Publiziert: 24.10.2020 um 00:49 Uhr
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Aktualisiert: 11.01.2021 um 07:06 Uhr
Marcel Tanner ist Mitglied der Corona-Taskforce.
Foto: Annette Boutellier
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Interview: Pascal Tischhauser

Marcel Tanner (67) reagiert auf die besorgniserregend hohen Corona-Zahlen in der Schweiz. Der Epidemiologe ist Mitglied der Taskforce, die den Bund zur Pandemie berät. Er macht unmissverständlich klar, dass es jetzt Massnahmen braucht.

BLICK: Herr Tanner, die Taskforce hat den Bundesrat gewarnt, wenn es so weiter geht, sind wir Mitte November bei 56'000 Neuinfektionen pro Tag. Im Ernst?
Marcel Tanner: Das ist ein Maximalwert. Wenn nichts geschieht und Massnahmen nicht befolgt werden. Auf diese besorgniserregende Zahl kommen Sie, wenn sich die Ansteckungen weiterhin so schnell verdoppeln. Das kann eigentlich jeder selbst nachrechnen.

Wären so hohe Fallzahlen noch zu verkraften?
Nein, darum zählt jetzt jeder Tag. Wie die Massnahmen greifen, sehen wir ja erst nach zwei Wochen. Wir müssen die Kontakte rasch beschränken. Und wir müssen uns weiterhin rigoros an die Grundmassnahmen halten: Händewaschen, Abstand halten, Maske tragen. Nach dem Lockdown waren wir damit erfolgreich.

Der Bundesrat will aber erst am kommenden Mittwoch die nächsten Massnahmen beschliessen. Müsste das nicht früher passieren?
Unbedingt! Das haben wir ja schon vor einer Woche aufgezeigt, aber beachten Sie: Dadurch ist vieles in Bewegung geraten – beim Bund und bei den Kantonen.

Die Taskforce fordert aber deutlich mehr: ein Verbot von Grossveranstaltungen und Clubschliessungen zum Beispiel.
Schauen Sie, wir wollen keinen Lockdown. Wir wollen nicht, dass die Menschen sich zurückziehen müssen und vereinsamen. Wir wollen, dass die Wirtschaft weiter funktioniert und die Kinder zur Schule gehen. Aber dafür müssen wir jetzt weitere Massnahmen ergreifen. Das haben wir dem Bundesrat aufgezeigt. Es liegt uns allen fern, Angst zu verbreiten. Wir sagen, wie die Lage ist und mit welchen Massnahmen wir einen schweizweiten Lockdown verhindern können.

Lässt sich er sich tatsächlich noch verhindern?
Nur, wenn wir die Verschärfungen jetzt durchziehen und uns rigoros und konsequent an die Massnahmen halten. Dann ja, dann haben wir eine gute Chance.

Wie lange braucht es strenge Massnahmen?
Sicher bis im Frühling. Vielleicht können einzelne früher wieder gelockert werden. Aber vielleicht braucht es auch noch strengere Massnahmen. Zentral ist immer noch das Contact Tracing. Auch wenn es nicht zu 100 Prozent funktioniert: Es lassen sich immer noch Infektionsherde entdecken, die dann mit gezielten Massnahmen angegangen werden können.

Wie sind wir in die zweite Welle geschlittert?
Mit dem kalten Wetter kam die Verlagerung in die Innenräume. Und dann sind wir über den Sommer halt nachlässiger geworden mit den Grundmassnahmen. Das zeigt sich auch daran, dass es viele Infektionen in Familien und durch private Feste gibt.

Auch die Taskforce gab sich vor einer Woche «erstaunt» über die zweite Welle. Wie das?
Wir haben laufend die Entwicklungen aufgezeigt und gemahnt, schon bei den Öffnungen im Juni. Der derart plötzliche starke Anstieg hat uns dann überrascht. Aber auch das haben wir umgehend weitergegeben.

Hat der Bundesrat zu wenig auf Sie gehört?
Nein, jetzt ist nicht die Zeit, mit dem Finger auf jemanden zu zeigen. Wichtig ist, dass wir anerkennen, in welcher Situation wir sind. Und handeln. Im August oder September wären sehr strikte Regeln für die ganze Schweiz nicht verstanden worden. Die Ansteckungszahlen waren zu unterschiedlich. Jetzt sind wir in einer anderen Situation.

Und doch brauchte es die Intervention von Bundespräsidentin Sommaruga, oder?
Ja, das meine ich auch. So wurde allen klar, dass wir strenge Massnahmen brauchen und uns ins Zeug legen müssen. Massnahmen sind wie Leitplanken an der Strasse. Nur sind halt die Leitplanken in der Pandemie klarer und der Weg enger.

Schon warnen Fachleute wieder, die Spitalbetten könnten knapp werden und dass entschieden werden muss, wer noch beatmet werden kann und wer nicht.
Es besteht das Risiko, dass wir da hinkommen. Das ist keine Panikmache, sondern realistisch. Wir sind aber in einer besseren Ausgangssituation als im März. Wir wissen mehr über das Virus und die Behandlung. Und wir haben auch 500 Intensivbetten mehr. Aber es braucht die Massnahmen – und zwar alle!

Warum hat die Taskforce nicht früher Druck auf den Bundesrat gemacht und ihn nicht um Handeln gezwungen?
Die Wissenschaft muss sagen, was sie weiss und was nicht. Das haben wir konsequent getan. Aber die Taskforce bestimmt nicht über die Massnahmen. Und seit dem 19. Juni, dem Schritt von der ausserordentlichen zur besonderen Lage, sind wir als Taskforce dem Bundesamt für Gesundheit angehängt. Jetzt können wir viel weniger direkt unseren Beitrag zur Entscheidungsfindung des Bundesrats leisten. Hier frage ich mich, ob es nicht einen effizienteren Mechanismus und Prozess gäbe.

Kommen wir zum Schluss: Sind Sie Fussballfan?
Was denken Sie? Ich bin Basler! Der FCB ist natürlich sehr wichtig.

Würden Sie selbst gerne noch in den St.-Jakob-Park?
Ja, das würde ich. Aber es geht nicht darum, ob Marcel Tanner zum FCB will oder nicht. Wir können uns derzeit keine Grossanlässe leisten. So wird die Eigenverantwortung zur Gemeinschaftsverantwortung.

Der oberste Schweizer Wissenschaftler

Marcel Tanner (67) ist als Epidemiologe und Mitglied der wissenschaftlichen Corona-Taskforce ein gefragter Interviewpartner. Der Basler ist aber auch Malariaforscher und Public-Health-Spezialist. Aktuell präsidiert er zudem die Akademien der Wissenschaften Schweiz – und ist damit oberster Repräsentant der Schweizer Wissenschaft.

Marcel Tanner (67) ist als Epidemiologe und Mitglied der wissenschaftlichen Corona-Taskforce ein gefragter Interviewpartner. Der Basler ist aber auch Malariaforscher und Public-Health-Spezialist. Aktuell präsidiert er zudem die Akademien der Wissenschaften Schweiz – und ist damit oberster Repräsentant der Schweizer Wissenschaft.

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