Neue Zahlen zeigen
Unser IV-System ist das reinste Glücksspiel

Ob jemand eine volle IV-Rente bekommt, hängt vom Gesundheitszustand ab. Aber nicht nur, wie sich nun mit Zahlen belegen lässt: Pech hat, wer bei der «falschen» Gutachterstelle landet. Die Unterschiede sind riesig.
Publiziert: 09:22 Uhr
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Aktualisiert: 09:30 Uhr
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Grosse Unterschiede: Pech hat, wer bei der «falschen» Gutachterstelle landet. (Symbolbild)
Foto: keystone-sda.ch

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Conny Schmid
Beobachter

Wer krank ist und auf eine IV-Rente hofft, hat Pech, wenn er für ein Gutachten zur GA eins AG in Frick muss. Dort stellten die Ärztinnen und Ärzte in den letzten drei Jahren nicht einmal bei 3 von 100 Versicherten eine volle Arbeitsunfähigkeit fest. 

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Ganz anders in Basel: Bei der Gutachterstelle Asim des Universitätsspitals Basel waren es 35 von 100. Die Chance, dort als nicht mehr arbeitsfähig eingestuft zu werden, ist also zehnmal grösser.

Daten über drei Jahre ausgewertet

Diese Zahlen hat der Beobachter aus Daten des Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV) berechnet. Seit 2022 melden die IV-Stellen dem BSV jährlich, wie viele Gutachten sie wo in Auftrag gaben, wie viele durchgeführt wurden und welche Arbeitsunfähigkeiten die Gutachterinnen und Gutachter feststellten.

Die Statistik unterscheidet zwischen Arbeitsunfähigkeiten im bisherigen Beruf und in einer angepassten Tätigkeit, gestaffelt in Zehn-Prozent-Schritten. Nach drei Jahren liegen jetzt genug Daten vor für belastbare Aussagen zur Arbeit der Gutachtenersteller. 

Für die Auswertung definierte der «Beobachter» «volle Arbeitsunfähigkeit», wenn Gutachter eine Arbeitsunfähigkeit von mehr als 90 Prozent selbst in einer angepassten Tätigkeit bescheinigten. Berücksichtigt wurden nur polydisziplinäre Gutachten. Das sind Gutachten, die mindestens drei unterschiedliche medizinische Fachgebiete abdecken.

Am Basler Universitätsspital begutachteten die Ärztinnen und Ärzte zwischen 2022 und 2024 insgesamt 475 Personen. 166 von ihnen stuften sie als voll arbeitsunfähig ein. Bei der GA eins AG in Frick waren es von 347 untersuchten Versicherten nur 9.

Gesundheitszustand nicht entscheidend

Die Zahlen untermauern, was der Beobachter schon oft geschrieben und mit Beispielfällen nachgewiesen hat: Das Gutachterwesen der IV gleicht einer Lotterie. Wer bei der «richtigen» Gutachterstelle landet, hat bessere Chancen auf eine Rente. Oder wie es der Versichertenanwalt Rainer Deecke formuliert: «Nicht der Gesundheitszustand entscheidet über die Rente, sondern die Gutachterstelle

Deecke vertritt seit 17 Jahren Versicherte gegen die IV. Kürzlich analysierte er die Daten des Jahres 2023; jene von 2024 lagen noch nicht vor. Er sah bestätigt, was er aus der Praxis kennt: Gutachten sind im Wesentlichen Glückssache.

Die Ergebnisse über alle drei Jahre, die der Beobachter nun zusammengetragen hat, überraschen ihn deshalb nicht – er findet sie aber sehr beunruhigend. «Wenn es bei Tausenden von Gutachten so grosse Unterschiede zwischen den Gutachterstellen gibt, kann man nicht mehr von einem fairen Verfahren sprechen. Das lässt sich nicht mit ärztlichem Ermessensspielraum erklären.»

Grosse Unterschiede trotz Zufallsprinzip

Die Daten zeigen auch: Über die Jahre hat sich wenig geändert. Es sind stets etwa dieselben Gutachterstellen, die selten volle Arbeitsunfähigkeit bescheinigen. 

Ueli Kieser, Professor für Sozialversicherungsrecht an der Universität St. Gallen, spricht von einem unhaltbaren Zustand: «Das Bundesgericht hat vor Jahren klargemacht, dass es so nicht geht, trotzdem ändert sich nichts», sagt er.

Wo sich eine versicherte Person begutachten lassen muss, bestimmen die IV-Stellen bei polydisziplinären Gutachten nicht selber. Dies läuft seit 2012 nach dem Zufallsprinzip. Theoretisch müssten also überall ähnlich viele voll arbeitsunfähige Personen untersucht werden

Eine mögliche Erklärung für die grossen Unterschiede zwischen den Gutachterstellen: der Kostendruck. Polydisziplinäre Gutachten werden nicht nach effektivem Aufwand, sondern pauschal vergütet. Gutachter hätten daher einen wirtschaftlichen Anreiz, eher zugunsten der IV zu beurteilen, sagt Anwalt Rainer Deecke. Denn die IV hinterfrage Gutachten viel eher, wenn sie eine Arbeitsunfähigkeit bescheinigten, und kaum je, wenn eine volle Arbeitsfähigkeit resultiere. «Ich habe das noch nie erlebt.» Ueli Kieser sieht das ähnlich: «Es ist grundsätzlich schwieriger, zu begründen, warum jemand nicht mehr arbeiten kann, als umgekehrt.»

Für Gutachter ist es demnach bequemer, eine versicherte Person arbeitsfähig zu schreiben. «Zeitaufwendige Rückfragen, die ohne zusätzliche Vergütung beantwortet werden müssten, brauchen sie so nicht zu befürchten», so Deecke.

Für seine These fand er klare Hinweise in Qualitätsberichten der Regionalen Ärztlichen Dienste (RAD). Diese prüfen für die IV-Stellen die Gutachten fachlich. Deeckes Auswertung zeigte: Gutachterstellen, die im Jahr 2014 vergleichsweise selten Arbeitsunfähigkeiten bescheinigten, erhielten von den RAD bessere Noten.

Die Berichte, die Deecke untersucht hat, sind zwar bereits älter. An der Situation habe sich aber nichts geändert, ist er sich sicher. «Es ist ein offenes Geheimnis, dass die RAD nicht neutral sind.»

Neuere Berichte, welche die Gutachterstellen beurteilen, gibt es offenbar nicht. Laut den angefragten IV-Stellen Aargau, St. Gallen und Zürich sowie der IV-Konferenz existieren keine solchen Dokumente. «Dass diese Daten nicht mehr erhoben werden, wirft Fragen bezüglich Transparenz auf», sagt Deecke.

BSV kritisiert Auswertung

So oder so: Fair ist es nicht, wenn die Chance auf IV-Leistungen von der Gutachterstelle abhängt. Wie sieht man dies beim BSV? Das Bundesamt hält die Auswertung des Beobachters für zu vereinfacht und die Schlüsse für nicht haltbar. Die Ausgangsdaten des BSV enthielten differenziertere Angaben zu Arbeitsunfähigkeiten.

Die RAD urteilten nach klaren Kriterien, und das Bundesgericht habe ihre Unabhängigkeit bestätigt. Häufigkeiten liessen keine Rückschlüsse auf Befangenheit zu. «Jedes Gutachten beurteilt einen individuellen Fall. Die medizinische Folgenabschätzung weist eine hohe Variabilität auf und trägt Ermessenszüge.»

Doch auch eine breitere Auswertung aller bescheinigten Arbeitsunfähigkeiten zwischen 71 und 100 Prozent ändert wenig: Die grossen Unterschiede zwischen den Gutachterstellen bleiben. Das BSV liefert hierfür keine Erklärung.

Qualitätskommission bestätigt Unterschiede

Anders die Kommission für Qualitätssicherung in der medizinischen Begutachtung (EKQMB). Diese wurde 2022 geschaffen. Sie hat beratende Funktionen und überprüft stichprobenartig die Qualität der Gutachten. Eigene Auswertungen würden die beschriebenen Unterschiede bestätigen, schreibt die Kommission dem Beobachter.

Rückschlüsse auf die Qualität einer Gutachterstelle liessen sich einzig daraus aber nicht ziehen. «Es gibt nicht nur Unterschiede zwischen einzelnen Gutachterstellen, sondern auch insbesondere nach Organisationsform, namentlich zwischen privaten Gutachterstellen, Kliniken und Universitätsstellen. Die EKQMB hat in diversen Diskussionen bereits darauf hingewiesen.»

Auch der Verband der medizinischen Abklärungsstellen (Medas) verweist darauf. Man könne zwar nicht nachvollziehen, wie die BSV-Daten erhoben wurden, sagt Präsident Beat Zaslawski. «Es fällt aber auf, dass öffentliche Gutachterstellen höhere Anteile an Versicherten mit hoher Arbeitsunfähigkeit aufweisen.» Diese würden meist alle medizinischen Fachrichtungen abdecken und daher komplexere Fälle bearbeiten – mit entsprechend höherer Wahrscheinlichkeit für höhere Arbeitsunfähigkeiten. Zaslawski führt die private Gutachterstelle Begaz GmbH in Binningen BL.

Öffentliche Gutachterstellen können sich Mehraufwand leisten

Tatsächlich führen drei öffentliche Gutachterstellen die Rangliste an. Doch die zweitplatzierte Clinique romande de réadaptation deckt mit neun Fachgebieten nicht überdurchschnittlich viele ab. Gleichzeitig findet sich mit der Medas Bern ZVMB mit vierzehn Disziplinen auch eine breiter aufgestellte Gutachterstelle am unteren Ende der Rangliste.

Das spricht eher für wirtschaftliche Interessen als Erklärung: Öffentliche Gutachterstellen leben nicht vom Gutachterwesen und können sich den Mehraufwand durch Rückfragen eher leisten.

Sozialversicherungsexperte Ueli Kieser findet, dass sich etwas ändern muss. «Gutachten müssen viel kritischer überprüft werden. Es braucht eine unabhängige, zentrale Gutachterstelle, stärker nach Aufwand abgestufte Entschädigungen und grundsätzlich weniger Gutachten.»

Baume-Schneider will weniger externe Gutachten

Weniger Gutachten will auch Sozialministerin Elisabeth Baume-Schneider. Geht es nach ihr, soll die IV stärker auf interne Abklärungen sowie Meinungen von Ärztinnen und Ärzten an öffentlichen Spitälern abstellen. 

Dies berichtete Blick Anfang September. Anwalt Rainer Deecke bleibt skeptisch: «Der Einbezug von klinisch tätigen Fachleuten ist sinnvoll. Doch wenn die IV mehr über die RAD abwickelt, bezweifle ich, dass dies zu gerechteren Ergebnissen führt.»


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