Darum gehts
- SP-Co-Präsidentin Mattea Meyer macht eine Pause wegen Erschöpfung.
- Das Parteipräsidium ist ein Verschleissjob.
- Studie zeigt: 98 Prozent der Bundeshausabgeordneten erlebten in den letzten zwei Jahren Hassrede oder Drohungen.
Und dann war sie weg. «Grosse Erschöpfung» fühle sie, schrieb SP-Co-Präsidentin Mattea Meyer (38) vor einigen Tagen auf Instagram. Sie müsse «die Notbremse ziehen». Die Zürcher Nationalrätin macht eine Pause – und spricht offen darüber.
Die Reaktionen auf ihre Auszeit sind mehrheitlich verständnisvoll. Unter dem Beitrag erhält Meyer Zuspruch. Viele kommentieren Herzen, wünschen ihr Kraft und Erholung. Der Tenor: Es sei stark, dass sie so öffentlich thematisiere, dass sie eine Pause brauche.
Meyer erntet auch Kritik
Für Niklas Baer (62), fachlicher Leiter bei Workmed, Zentrum Arbeit und psychische Gesundheit, zeigt diese Offenheit vor allem eines: einen gesellschaftlichen Fortschritt. «Ich finde es mutig, wenn Politikerinnen und Politiker sagen, dass sie eine Grenze erreicht haben.» Die Bereitschaft, Erschöpfung klar zu benennen, sei heute grösser, weil das Bewusstsein für psychische Gesundheit gestiegen sei, sagt der Psychologe.
Doch trotz zunehmender Sensibilisierung stösst Meyers Schritt nicht überall auf Verständnis, sie erntet auch viel Kritik. Manche fordern ihren Rücktritt, andere fragen sich, wie jemand mit einem angeblichen 50-Prozent-Pensum überlastet sein kann.
Geschäfte werden immer komplexer
Nur: Ist es tatsächlich ein 50-Prozent-Pensum? «Bei vielen nicht», sagt Corina Schena (30), Politologin beim Forschungsinstitut GFS Bern. Zwar sei ein Ratsmandat in der Theorie ein Nebenamt, die Arbeitsbelastung sei in den letzten Jahren aber gestiegen.
«Die Anzahl und die Komplexität der Geschäfte haben deutlich zugenommen», so Schena. Auch die Medien- und Öffentlichkeitsarbeit sei viel anspruchsvoller geworden. Hinzu kämen zahlreiche Verpflichtungen: kantonale Veranstaltungen, Delegiertenversammlungen, Podien. Noch stärker ist die Belastung, wenn man ein Parteipräsidium innehat.
Nicht die erste Auszeit
Das Parteipräsidium – es ist ein Verschleissjob. Kein Wunder also, dass weder die Mitte noch die FDP mit Kandidierenden überrannt wurden, als sie kürzlich ihre Parteispitzen neu besetzen mussten.
Mattea Meyer ist denn auch bei weitem nicht die einzige Parteipräsidentin, die eine Auszeit benötigte oder an ihre Belastungsgrenzen gelangte. Ihr Co-Präsident Cédric Wermuth (39, AG) nahm sich vor zwei Jahren eine zweimonatige Familienpause. Der frühere Mitte-Präsident Gerhard Pfister (63, ZG) zog sich nach den Wahlen 2023 für mehrere Tage ins Kloster zurück. Und der langjährige FDP-Politiker Rolf Schweiger (1945–2025, ZG) hatte 2004 ein Burnout – nach nur sieben Monaten an der Parteispitze.
Auch der Zürcher GLP-Nationalrat Martin Bäumle (61) erlitt 2012, als er Parteichef war, einen Schwächeanfall. Neben Stress und Schlafmangel kritisierte er damals unter anderem auch die medialen Angriffe, die häufig auf die Person statt auf die Sache zielten.
Anfeindungen gehören zum Politikalltag
Wie stark Schweizer Parlamentsmitglieder Anfeindungen ausgesetzt sind, zeigt eine Studie der Universität Zürich im Auftrag des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements (EJPD), die kürzlich erschienen ist. In der Umfrage gaben 98 Prozent aller National- und Ständerätinnen und -räte an, in den letzten zwei Jahren Hassrede oder Drohungen erlebt zu haben.
Diese Angriffe, die hohe öffentliche Exponiertheit und die ständige Erreichbarkeit über soziale Medien können stark belastend sein, sagt Politikwissenschaftlerin und Mitautorin der Studie, Sarah Bütikofer.
Hinzu komme, dass Parteipräsidentinnen und -präsidenten in der Schweiz keinen professionellen Stab hätten, der sie entlaste. «In anderen Ländern übernehmen Teams Medienarbeit und Recherche. Bei uns machen das die meisten selber.» Sie sagt: Das Milizamt ist auf nationaler Ebene ein Vollzeitjob.
Zeit, das Milizsystem zu überdenken?
Ihr Fazit: «Das Milizsystem auf nationaler Ebene ist heute nicht mehr zeitgemäss.» Es sei historisch auf Männer zugeschnitten gewesen, die einige Male im Jahr in die Bundesstadt reisten und sich dort nur um wenige politische Themen von nationaler Bedeutung kümmerten. «Ein kompletter Systemwechsel ist kaum realistisch, aber mehr Personal und Ressourcen wären für viele Parlamentsmitglieder eine grosse Entlastung.»
In eine ähnliche Richtung argumentiert Corina Schena. Für sie ist klar: Will die Schweiz am Milizprinzip festhalten, braucht es strukturelle Anpassungen, die die Vereinbarkeit verbessern – etwa die Professionalisierung der Kommunikationsaufgaben. Ebenso wichtig sei eine Kultur, in der man offen über psychische Gesundheit sprechen könne, auch in öffentlichen Ämtern. «Es muss normal sein, sagen zu dürfen, dass man eine Pause braucht.»
«Hebt euch Sorge!», mit diesen Worten schliesst Mattea Meyer ihren Instagram-Post. Auch Psychologe Niklas Baer betont, dass es besser sei, die Reissleine «rechtzeitig zu ziehen, als krankheitsbedingt auszufallen». Wer zu spät reagiere, brauche deutlich länger, bis es ihm wieder besser gehe. Und: «Psychische Probleme werden immer noch als sehr beschämend wahrgenommen, umso wichtiger sind kompetente Vorbilder, die zu ihren persönlichen Limiten stehen.» So, wie es Mattea Meyer getan hat.