Foulspiel gegen die Jugend
Wenn Kinder den Preis fürs Sparen zahlen

Entscheid mit Signalwirkung. Während die Frauen-EM Tausende Mädchen für den Fussball begeistern soll, streicht der Bund Gelder für Jugend+Sport. Ein Kommentar.
Publiziert: 15:27 Uhr
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In der Schule, in Vereinen oder in Jugendlagern: J+S unterstützt Bewegungsförderung breitflächig.
Foto: Keystone

Darum gehts

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Lino SchaerenRedaktor

Es ist ein Tritt in die Kniekehle des Breitensports: Ab 2026 kürzt der Bund die Beiträge zum Förderprogramm Jugend+Sport um 20 Prozent – wenige Tage vor dem Highlight des Sportjahrs, der Frauenfussball-EM im eigenen Land, die Tausende Mädchen für das Fussballspiel begeistern soll.

Verbände, Vereine, Trainerinnen und Jugendarbeiter sind entsetzt. Das Bundesamt für Sport (Baspo) beschneidet sein erfolgreichstes Programm: Letztes Jahr nahmen 680'000 Kinder und Jugendliche an 41,5 Millionen J+S-Kursstunden und 1,8 Millionen Lagertagen teil – so viele waren es noch nie. Eigentlich ein Grund zum Feiern. Schliesslich erfüllt J+S damit ein zentrales politisches und gesellschaftliches Anliegen: Kinder sollen sich mehr im Freien bewegen, als vor dem Handy oder der Konsole zu hocken.

Opfer des eigenen Erfolgs?

Doch der Bund greift lieber zum Sparhammer, mit der seltsamen Begründung, Jugend+Sport sei Opfer des eigenen Erfolgs geworden: Weil immer mehr Kinder und Jugendliche an J+S-Angeboten teilnehmen, sei der Fördertopf von 115 Millionen Franken ausgeschöpft. Um die bisherigen Subventionen weiterhin zahlen zu können, müssten die Beiträge für die kommenden Jahre um rund 20 Millionen aufgestockt werden. Dies aber könne sich der Bund in der angespannten finanziellen Lage nicht leisten.

Angesichts des milliardenschweren F-35-Debakels im Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS) wirkt diese Argumentation zynisch, ja grotesk. Während für die Armee Milliarden an Mehrkosten drohen, liegen ein paar zusätzliche Millionen für die Bewegungsförderung von Hunderttausenden Kindern und Jugendlichen nicht drin. Das soll einmal jemand der Bevölkerung erklären. Die J+S-Kürzungen reihen sich ein in die zunehmend fragwürdigen Hinterlassenschaften der ehemaligen VBS-Vorsteherin Viola Amherd (63).

Der Vergleich mit der Milliarden-Falle bei der Kampfjetbeschaffung mag populistisch wirken, verdeutlicht aber, dass im Breitensport mit vergleichsweise geringen Mitteln eine grosse Wirkung erzielt wird. Macht sich der Bund das nicht zunutze, sind die Kinder die Leidtragenden.

Zwar dürften die Kürzungen nicht die Existenz von Vereinen bedrohen, höhere Mitgliederbeiträge könnten aber dazu führen, dass sich Familien mit geringem Einkommen die Vereinsmitgliedschaft für ihre Kinder nicht mehr leisten können. Das wäre fatal. Studien zeigen: Wer sich in der Kindheit viel bewegt, bleibt oft auch im Erwachsenenalter sportlich aktiv.

Sport als «Friedensstifter»

Adolf Ogi (82) betonte stets, wie wichtig Bewegung für die soziale und gesundheitliche Entwicklung von Jugendlichen ist. Einer seiner Leitsätze: «Sport ist die beste Lebensschule.» Der Sportminister der Jahre 1996 bis 2000 bekräftigt seinen Hinweis im Gespräch mit Blick über die J+S-Kürzungen: «Gerade in schwierigen Zeiten sollten wir uns daran erinnern, dass die Jugend unsere Zukunft ist», so Ogi. Die Jugend sei unsere Chance auf eine bessere, friedlichere Welt.

SP-Nationalrätin Andrea Zryd (49, BE) betrachtet den ehemaligen SVP-Bundesrat Ogi als Verbündeten: «Sport kennt kein Parteibuch», sagt sie. Zryd ist Athletiktrainerin, wohnt in Magglingen BE, der Heimat des Bundesamts für Sport. Die Kürzungen empören sie. Mit Blick auf die Frauen-EM sei der Entscheid «absolut lächerlich».

Grossanlässe, so Zryd, seien für das Gastgeberland eine riesige Chance, den Breitensport zu fördern. Die nächste Chance, dies zu tun, lässt nach der Frauen-EM nicht lange auf sich warten: 2026 wird die Eishockey-Weltmeisterschaft in der Schweiz ausgetragen. «Statt das zu nutzen, wird der Breitensport vom Bund torpediert», kritisiert Zryd.

Die heutige J+S-Politik steht im Widerspruch zu jener beim letzten Sportgrossevent im Land, der Fussball-EM der Männer 2008 in der Schweiz und in Österreich. Der damalige J+S-Chef Martin Jeker nutzte die EM geschickt, um das Förderprogramm massiv auszubauen. 2009 wurde J+S Kids eingeführt – seither profitieren auch Fünf- bis Zehnjährige. Auf dem Höhepunkt der Fussball-Euphorie wurde die finanzielle Unterstützung von polysportiven Trainings für die Kleinsten aufgegleist. Jeker erinnert sich: «Die Euro 08 hatte mit J+S Kids zwar nichts zu tun, aber sie war der Auslöser – wir nutzten sie als Trittbrett.»

Das Parlament kann noch korrigieren

17 Jahre später ist von vergleichbarem Elan nichts zu spüren. Zwar wurde der Bundesbeitrag für die Frauen-EM – unter Druck des Parlaments – auf 15 Millionen erhöht. Bei der Männer-Euro 2008 machte der Bund noch 80 Millionen locker. Und das Baspo betont, die EM für gezielte Sportförderung zu nutzen. Doch es bleibt bei einmaligen Beträgen für Forschung oder Tourismus. Andrea Zryd: «Eine Anschubfinanzierung – eine Eintagsfliege. Nachhaltig ist das nicht.»

Noch sind die Kürzungen Jugend+Sport nicht endgültig beschlossen. Im Rahmen der Budgetdebatte kann das Parlament im Dezember korrigierend eingreifen. Die Lobbyarbeit von Verbänden und Sportpolitikerinnen wie Zryd ist längst angelaufen.

Und auch der Druck aus der Bevölkerung wächst: Eine Petition gegen den Sparhammer fand bis Samstagabend mehr als 125'000 Unterzeichner. Lanciert wurde sie von Sven Brändle (20), einem kirchlichen Jugendarbeiter aus Pfäffikon ZH.

Die zunehmende Gegenwehr zeigt: J+S ist längst mehr als ein Relikt der Wehrertüchtigung. Was 1972 als Programm zur Vorbereitung auf die Rekrutenschule begann, ist heute eine tragende Säule für Integration, soziale Bildung und Chancengleichheit im Schweizer Sport. Hier zu sparen, ist ein Foulspiel. Ein Foul an der Schweizer Jugend.

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