«Es geht um eine lächerliche Million»
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Tamara Funiciello hässig:«Es geht um eine lächerliche Million»

Chefin der FDP-Frauen spricht von «mentaler Vergewaltigung»
Debatte um Geld für Frauenschutz entgleist

Aus einer knappen Abstimmung im Nationalrat wird innert Tagen ein hoch emotionaler Streit. Was ist da eigentlich passiert?
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Die SP-Nationalrätinnen Tamara Funiciello und Anna Rosenwasser kritisieren auf Instagram, dass der Nationalrat eine zusätzliche Million für den Schutz von Frauen abgelehnt hat.
Foto: Instagram

Darum gehts

  • Heftige Debatte nach Budgetentscheid des Nationalrats
  • Tamara Funiciello muss wegen Mobilisierung Kritik einstecken
  • Parlamentarier sprechen von «mentaler Vergewaltigung» und russischen Hackern
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Sara BelgeriRedaktorin

Es ist Dienstagmorgen, als die SP-Nationalrätinnen Tamara Funiciello (35) und Anna Rosenwasser (35) ein Video auf Instagram veröffentlichen. Beide schauen ernst in die Kamera. «Im Nationalrat haben sie gerade eine Million abgelehnt für die Bekämpfung von Gewalt an Frauen», sagt Rosenwasser. «Wir lassen uns das nicht bieten.» Funiciello ergänzt: «Wir sehen uns heute Abend um 18.30 Uhr auf dem Bundesplatz.»

Was wohl weder Rosenwasser noch Funiciello zu diesem Zeitpunkt ahnen: wie viral das Video gehen wird. Wie viele Menschen sie mobilisieren werden. Und wie sehr die Debatte um eine Million Franken – ein Bruchteil der 90 Milliarden Franken, die der Bund im kommenden Jahr ausgeben will – sich hochschaukeln wird.

Knapper Entscheid dagegen

Aber von vorn: Am Montagabend debattierte der Nationalrat über zwei Budgetposten für das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann. Eine Erhöhung von 1,5 Millionen Franken wird gegen den Willen des Bundesrats bewilligt. Eine Aufstockung von 3 auf 4 Millionen jedoch, die unter anderem Frauenhäuser und Opferberatungsstellen hätte entlasten sollen, wird hauchdünn abgelehnt – mit 94 zu 93 Stimmen und Stichentscheid von Nationalratspräsident Pierre-André Page (65).

Schafe seien dem Parlament offenbar wichtiger als der Schutz von Frauen, schlussfolgert Funiciello polemisch. Tatsächlich waren zusätzliche 3,6 Millionen Franken für den Herdenschutz, ebenso 10 Millionen für die Weinförderung bewilligt worden. Also lanciert die SP einen Appell mit dem Titel «Jetzt Frauenleben retten!». Rosenwasser und Funiciello rufen im eingangs erwähnten Video dazu auf, diesen zu unterzeichnen. Innerhalb von 24 Stunden kommen über 200'000 Unterschriften zusammen.

Am Dienstagabend versammeln sich mehrere Hundert Personen zu einer Spontankundgebung auf dem Bundesplatz. Gleichzeitig startet die Schweizer Bürgerinnen- und Bürgerbewegung Campax eine Mail-Aktion an die Mitglieder des Ständerats. Rund 1200 Nachrichten werden laut der Kampagnenorganisation verschickt. Der Druck zeigt Wirkung: Am Mittwoch nimmt der Ständerat die zusätzliche Million stillschweigend an.

Funiciello und Rosenwasser reagieren erneut auf Instagram. «Es ist durchgekommen», sagen sie abwechselnd, sichtlich emotional. Funiciello vergräbt kurz das Gesicht in den Händen, Rosenwasser wischt sich Tränen aus den Augen.

Kritik wegen Kampagne

Nicht alle teilen die Begeisterung, Funiciello muss im Lauf der Woche viel Kritik einstecken. Der «Tages-Anzeiger» fragt: «Viel Lärm um nichts?» Ihr wird vorgeworfen, sich zu inszenieren, es sei ohnehin absehbar gewesen, dass der Ständerat die Million bewilligen würde – zumal der Vorschlag zur Aufstockung ursprünglich aus der kleinen Kammer stammte.

Inhaltlich jedoch stösst die Forderung nach zusätzlichen Mitteln auf breite Zustimmung, auch über Parteigrenzen hinweg. So fordern auch die FDP-Frauen in einer Mitteilung mehr Geld für Gewaltprävention. Deren Präsidentin, die Zürcher Nationalrätin Bettina Balmer (59), hat für die Zusatzmillion gestimmt. Sie betont, dass die Million klar innerhalb der Schuldenbremse liege. Angesichts der steigenden Zahl der Femizide sei der Staat in der Pflicht, wirksame und finanzierbare Lösungen mitzutragen. «Als Ärztin kann ich nicht gutheissen, dass wir zusätzliches Geld für Wein, aber nicht gegen Gewalt an Frauen ausgeben.» Innerhalb ihrer eigenen Fraktion will sie für die Aufstockung kämpfen.

Aufgeheizte Debatte

Von der Art, wie in den letzten Tagen Druck aufgebaut wurde, hält sie allerdings nichts. Die Auseinandersetzung um die Taschenmunition habe gezeigt, dass Politik auch ohne Eskalation funktionieren könne. «Wir müssen niemanden terrorisieren, um Lösungen zu finden», sagt Balmer. Ihre Ratskollegen seien «regelrecht bombardiert» worden mit E-Mails.

Wie stark die Debatte aufgeheizt ist, zeigt auch Balmers eigene Wortwahl zum Vorgehen: «Das ist unverhältnismässig und kommt einer mentalen Vergewaltigung gleich.»

Auch andere Parlamentarierinnen und Parlamentarier kritisierten in den letzten Tagen die Art der Mobilisierung scharf. FDP-Ständerat Andrea Caroni (45) sagte zu Blick, die Mailflut sei «im Resultat von russischen Hackern kaum zu unterscheiden». Und gegenüber CH Media sprach er von «Cybermobbing gegen das Parlament». Mitte-Ständerätin Andrea Gmür-Schönenberger (61) sagte dem SRF: Hätte sie das Anliegen nicht bereits unterstützt, hätte sie «fast noch aus Trotz das Gegenteil stimmen können».

Zurück in den Nationalrat

Opferberaterin Agota Lavoyer (44) hält dem in den sozialen Medien entgegen, es handle sich um klassisches Tone-Policing: Lieber werfe man Tamara Funiciello Selbstinszenierung vor und rege sich über die Mails auf, statt über Gewaltprävention zu sprechen. Und auch Funiciello schaltet sich auf Instagram noch einmal ein: Gerade weil es sich um so einen kleinen Beitrag handle und obwohl es so viele Femizide gebe und Handlungsbedarf bestehe, sei es umso unverständlicher, dass er abgelehnt wurde.

Am Montag entscheidet noch einmal der Nationalrat. Beobachter gehen davon aus, dass er der Aufstockung zustimmen wird.

Unabhängig vom Ausgang der Abstimmung: Der Appell der SP hat – Stand Samstagabend – über 480'000 Unterschriften gesammelt.

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