Herr Sapolsky, ich habe heute erfahren, dass der neugeborene Sohn meines besten Freundes schwer krank ist. Mein Herz begann zu rasen, und mein Magen zog sich zusammen. Was ist mit mir passiert?
Robert Sapolsky: Sie haben bewiesen, dass Sie ein Säugetier und keine Echse sind.
Wie bitte?
Eine Echse sieht einen natürlichen Feind und denkt: «Uups, ein Raubtier». Und als Reaktion darauf verschnellert sich ihr Herzschlag. Wir Säugetiere können uns in einen Artgenossen hineinversetzen – und darauf eine körperliche Reaktion zeigen.
Sie sagen, Mitgefühl und Anteilnahme ist nichts spezifisch Menschliches, sondern etwas, was alle Säugetiere empfinden können?
Kommt darauf an, wie Sie Mitgefühl und Anteilnahme definieren. Es gibt sehr gründliche Studien, die zeigen, dass Ratten wieder und wieder ein Pedal drücken, um eine andere Ratte aus einem engen Tunnel zu befreien. Das ist in einem gewissen Sinne altruistisch, sprich selbstlos: Die Ratte ist willens, für die Befreiung einer anderen Ratte zu bezahlen.
Unsere Fähigkeit zur Anteilnahme unterscheidet sich also nicht von jener einer Ratte?
Doch.
Wie denn?
Wir Menschen sind fähig, durch Raum und Zeit zu fühlen. Ein Schimpanse kann Mitgefühl für einen Artgenossen empfinden, der vor seinen Augen von einem ranghöheren Idioten gebissen wird. Wir Menschen können Anteil nehmen am Schicksal von Kindern in einem Flüchtlingslager auf der anderen Seite des Planeten. Sie können sich in Ihren Freund mit seinem kranken Kind hineinversetzen, ohne ihn zu sehen. Das ist einzigartig.
Mögen Sie eigentlich Menschen?
(lacht) Kommt auf den Menschen an. Ich würde gerne sagen, dass meine Fähigkeit zur Empathie überdurchschnittlich ist, aber ich habe leider oft bewiesen, dass es nicht so ist.
Ich frage, weil Sie einmal gesagt haben, dass Sie Paviane nicht mögen. Und das obwohl Sie über ein Jahrzehnt damit verbracht haben, diese Tiere zu erforschen.
Paviane machen es einem generell schwer, sie zu mögen. Sie sind unglaublich aggressiv und verbringen einen grossen Teil ihrer Zeit damit, ihre Partner zu hintergehen. Es gibt allerdings einzelne Paviane, die ich sehr gerne mag.
Sie sagen, an die Spitze eines Pavian-Rudels gelangt in der Regel der aggressivste Affe. Klingt wie die amerikanische Politik.
Hören Sie mir bloss auf. Sonst fluche ich eine Stunde über Trump.
Was halten Sie als Hirnforscher von Trump?
Es sind beunruhigende Zeiten, wenn ein Präsident an der Macht ist, der unsere übelsten Instinkte nicht nur normal, sondern auch noch bewundernswert erscheinen lässt. Trump ist brillant darin, zu erfühlen, welcher Aussenseiter sich am besten als Sündenbock eignet. Aber das alles würde nicht funktionieren ohne eine Bevölkerung, die Angst hat und wütend ist.
Angst ist in derselben Region des Gehirns angesiedelt wie Aggression. Heisst das, wenn wir uns fürchten, ist die Chance grösser, dass wir jemandem Schaden zufügen?
Es kommt darauf an, wovor wir uns fürchten und wer wir sind. Aber ja: Zu oft ist Aggression die Antwort auf Frustration und Angst.
Wie bei den Pavianen. Dorthaben Sie beobachtet, wie die Männchen als Reaktion auf den Verlust ihrer hierarchischen Position Weibchen vergewaltigt haben.
Wir sollten vorsichtig sein mit der menschlichen Interpretation tierischen Verhaltens, aber was ich beobachtete, erfüllte in jeder Art und Weise die Definition von Vergewaltigung. Das ist ein sehr gutes Beispiel für eine unter uns Primaten stark verbreiteten Tendenz: Werden wir erniedrigt, muss ein anderer dafür bezahlen.
Zum Glück gibt es den frontalen Kortex, jenen Teil des Hirns, der für die Kontrolle von Impulsen zuständig ist
Absolut. Aber wissen Sie, im Hirn ist nichts schwarz oder weiss.
Wie meinen Sie das?
Wir brauchen den frontalen Kortex, um diszipliniert und konzentriert während längerer Zeit an etwas zu arbeiten. Das ist eine wertneutrale Fähigkeit. Es braucht zum Beispiel eine Menge disziplinierte frontalkortexische Arbeit, um ein Dorf ethnisch zu säubern, statt Feierabend zu machen und mit dem Kollegen ein Bier zu trinken. Der frontale Kortex erklärt unser bestes, aber auch unser schrecklichstes Verhalten.
Arbeiten weibliche Hirne anders als männliche?
Ja, aber es hängt von ihrem neurobiologischen Geschmack ab, ob sie die Unterschiede für wenig oder für gigantisch interessant halten.
Welchen Geschmack haben Sie?
Es gibt ziemlich dramatische Unterschiede, wenn es um die Absonderung von Sexualhormonen geht. Bei Männern tröpfelt konstant ungefähr dieselbe Menge ins Hirn. Bei Frauen passiert alle 28 Tage etwas Verblüffendes. Wenn Frauen menstruieren, unterscheidet sich die Hormon-Menge ums Hundertfache. Um den weiblichen Zyklus zustande zu bringen, ist der Teil im Hypothalamus, der dafür zuständig ist, um einiges komplexer verkabelt als der männliche.
Und was lässt sich dadurch über weibliches Verhalten sagen?
Wenig. Geschlechtliche Unterschiede bei Pavian-Hirnen interessieren mich, beim menschlichen Hirn nicht so sehr. Es lässt sich daraus wenig über das individuelle Verhalten ableiten.
Im Pavian-Stamm, den Sie während Jahren beobachteten, hatte eine Tuberkulose-Seuche alle aggressiven Männchen ausgelöscht. Plötzlich gab es mehr weibliche Mitglieder im Stamm, und das Verhalten der Gruppe änderte sich massiv.
Die Überlebenden verhielten sich sozialer, sie verbrachten mehr Zeit mit ihren Jungen, mehr Zeit mit Fellpflege. Dieses Verhalten vererbte sich über Generationen. Männchen, die neu zum Stamm stiessen, passten sich dem Verhalten an. Die Pointe dieser Beobachtung ist für mich, dass sie Studien widerlegt, die in den 60er- und 70er-Jahren Paviane als hoch aggressive, hierarchisch strukturierte, männlich dominierte Tiere charakterisierte. Jeder, der menschliches Verhalten als unausweichlich beschreibt, weiss nicht viel über Primaten.
Sie schreiben in Ihrem Buch «Gewalt und Mitgefühl», dass die biologischen Quellen für Liebe und Hass dieselben sind. Wie meinen Sie das?
Es gibt dieses wunderbare Quote des Holocaust-Überlebenden Elie Wiesel: Das Gegenteil von Liebe ist nicht Hass, sondern Gleichgültigkeit. Hinsichtlich unserer Herz-funktion und des Nervensystems gibt es keine Unterschiede zwischen einer Person mit einem Wutanfall oder einem Menschen, der einen Orgasmus hat. Liebe und Gleichgültigkeit unterscheiden sich viel stärker. Und das widerspiegelt sich in unseren Ängsten.
Inwiefern?
Wir fürchten uns vor nichts mehr als vor einem kaltblütigen Killer, in gewisser Weise behagt uns leidenschaftliche Rage mehr als gleichgültige Grausamkeit. Wut erinnert uns daran, dass wir Säugetiere sind. Kaltblütige Grausamkeit erinnert uns an Echsen.
Sie beschreiben auch, wie empfänglich unser Hirn für Hautfarben ist. Ist Rassismus natürlich?
Gottseidank nicht. Tief menschlich ist das Aufteilen der Welt in die Kategorien «wir» und «sie». Nicht verankert ist, wen wir in diese Kategorien einschliessen.
Können Sie das erklären?
Wenn Sie einen Menschen in einen Gehirnscanner stecken und ihm in kaum wahrnehmbarer Geschwindigkeit Bilder von Menschen mit einer anderen Hautfarbe zeigen, wird jener Teil des Gehirns, der für Angst, Bedrohung und Aggression zuständig ist, aktiv. Deprimierend! Aber es gibt grosse Unterschiede.
Welche?
Menschen, die in einem multikulturellen Umfeld aufgewachsen sind, reagieren anders. Ist die gezeigte Person ein Bekannter, ebenfalls. In unserem Hirn ist nichts unausweichlich. Noch interessanter: Wenn sie die Studie wiederholen, und die gezeigten Menschen tragen eine Baseballmütze ihres liebsten Sportteams, dann spielt die Hautfarbe überhaupt keine Rolle mehr.
Wie viel wissen wir eigentlich über unser Hirn?
Viel mehr als vor 30 Jahren und viel weniger als in 50 Jahren. Zum Jahrestreffen der Society of Neuro-science kommen 30'000 Hirnspezialisten. Auf dem Pissoir hört man Forscher über ihre Lieblings-Hirnregion sprechen. Aber das Hirn bleibt das komplexeste Ding des Universums. 90 Prozent der Hirnforschung, die uns hilft zu verstehen, was in unserem Kopf passiert, passierte in den letzten 20 Jahren. Wir wissen heute, dass im Hirn einiges schiefgehen kann. Immer öfter kommen wir zum Schluss: Das war nicht der Mensch, das war seine Krankheit.
Wie meinen Sie das?
Menschen, die einen beschädigten frontalen Kortex haben, können ihnen ganz genau erklären, wie und weshalb sie sich richtig verhalten werden und danach genau das katastrophale Gegenteil davon tun. In den Todestrakten amerikanischer Gefängnisse haben 25 Prozent der Insassen eine Erschütterungs-Trauma des frontalen Kortex erlebt.
Und genau das ist die Kritik, die viele an der Neurowissenschaft haben, dass sie menschliches Verhalten relativiert. Heisst Verstehen auch Vergeben?
Ja, das ist eine Gefahr. Aber mir macht etwas anderes mehr Sorgen.
Was?
Statt festzustellen, dass in manchen von uns neurobiologisch etwas falsch läuft, setzen wir auf Begriffe wie Gut, Böse, Gerechtigkeit und Bestrafung. Auf Begriffe, die absolut nicht kompatibel sind mit der Art und Weise, wie wir funktionieren.
Sie werden ja richtig wütend!
Wir sind biologische Organismen! Die Vorstellung, dass irgendwo in unserem Hirn ein kleiner Mann sagt, was wir zu tun haben, hat nicht mit Biologie und Physik zu tun. Diese Vorstellung ist nicht kompatibel mit der Wissenschaft des 21. Jahrhunderts, nicht mal mit jener des 19. Jahrhunderts.
Sie erklären in Ihrem Buch den biologischen Ursprung fast jedes menschlichen Fehlverhaltens. Wieso sind Sie trotzdem optimistisch?
Schauen Sie sich die Geschichte der Menschheit an. Die Erde war mal ein wirklich schrecklicher Ort, bevor wir Menschen entschieden haben, dass Kinderarbeit und Sklaverei etwas Schlechtes sind. Und ja, es gibt heute noch Sklaverei und Missbrauch, aber man kommt nicht umhin festzustellen: Es lebt sich hier besser als auch schon.
Das klingt wirklich gut.
Ja, solange Sie nicht zu genau hinschauen.