Haben Sie schon immer viel geträumt?
Michael Schredl: Nein. Als ich angefangen habe, meine Träume aufzuschreiben, hatte ich zuvor jahrelang keine Erinnerungen an mein nächtliches Erleben.
Wie kommt man da auf die Idee, all seine Träume aufzuschreiben?
Aus Neugierde. Angefangen habe ich 1984. Schon als Naturwissenschaftler interessierten mich psychologische Themen, insbesondere Erich Fromm und sein Buch «Märchen, Mythen und Träume». Ich wollte mehr über meine Träume erfahren. Also legte ich mir vor dem Einschlafen ein Notizbuch neben das Bett.
Und das hat funktioniert?
Ja, sofort. Das erste Mal seit zehn Jahren erinnerte ich mich beim Aufwachen an meinen Traum.
Inzwischen haben Sie 18'000 Träume aufgeschrieben. Was fasziniert Sie daran?
Anfangs hat mich die tiefere Bedeutung gar nicht so interessiert. Vielmehr begeisterte mich, wie kreativ Träume sind. Oft kann ich darüber lachen. Belastende Träume sind ein Anstoss, um sich mit bestimmten Themen auseinanderzusetzen. Für mich sind sie immer eine Bereicherung.
Schon in seiner frühen Karriere interessierte sich Michael Schredl (61) für Träume. Nach seinem Elektrotechnikstudium wechselte er in die Psychologie und machte seine Doktorarbeit zur Traumforschung und Schlafmedizin. Schredl zählt heute zu den führenden Traumforschern und ist wissenschaftlicher Leiter des Schlaflabors am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim (D). Dort forscht er seit mehr als 20 Jahren zur Wechselwirkung von Träumen und Albträumen mit dem Wachleben. Zudem ist er Herausgeber der Onlinezeitschrift «International Journal of Dream Research». Soeben ist sein Buch «Analyzing a Long Dream Series» erschienen.
Schon in seiner frühen Karriere interessierte sich Michael Schredl (61) für Träume. Nach seinem Elektrotechnikstudium wechselte er in die Psychologie und machte seine Doktorarbeit zur Traumforschung und Schlafmedizin. Schredl zählt heute zu den führenden Traumforschern und ist wissenschaftlicher Leiter des Schlaflabors am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim (D). Dort forscht er seit mehr als 20 Jahren zur Wechselwirkung von Träumen und Albträumen mit dem Wachleben. Zudem ist er Herausgeber der Onlinezeitschrift «International Journal of Dream Research». Soeben ist sein Buch «Analyzing a Long Dream Series» erschienen.
Manche Leute sagen, sie träumen gar nichts.
Sie erinnern sich bloss nicht. Jeder und jede träumt, das kann man nicht abschalten. Träumen ist ein subjektives Erleben während des Schlafs und Teil unseres Bewusstseins. Solange das Gehirn aktiv ist, gibt es noch ein Bewusstsein – egal ob wach, im Schlaf oder in Narkose.
Oft verflüchtigen sich Träume sehr schnell. Wie kann man das verhindern?
Beim Aufwachen wechselt das Gehirn vom Schlaf- in den Wachmodus. Während dieses Übergangs kann man den Traum ins Wachbewusstsein holen. Das geht am besten, wenn man nicht gleich anfängt, über den Tag nachzudenken, sondern den Traum mehrmals Revue passieren lässt. So lernt man ihn auswendig, wie ein Gedicht – wichtig ist das Wiederholen. Und dann kann man das aufschreiben.
Kürzlich habe ich von meiner Mutter geträumt. Ihr Arbeitsteam wurde mit Silberstücken belohnt, nur sie nicht. Das hat mich im Traum sehr geärgert. Ich habe dann gegoogelt, was Silber für eine Bedeutung hat.
Die Symbolik ist nicht relevant, weil die Bedeutung für jeden anders ist. Was für den einen Silber, ist für den anderen Gold oder ein Blumenstrauss. Wichtig ist der grössere Kontext. Ich ziehe jeweils die Parallele zum Film. Im Traum ist man sein eigener Regisseur mit einem riesigen Spektrum an Szenarien und Darstellern. Aufgezeigt wird darin ein bestimmtes psychologisches Thema. In dem Fall geht es um die fehlende Anerkennung. Und interessant ist auch der Ärger.
Warum?
Anerkennung und Ärger über fehlende Anerkennung ist ein Thema, das aktuell aktiv ist, vielleicht nicht so intensiv, weil der Traum gerne übertreibt. Im Wachzustand kann man sich damit auseinandersetzen, zum Beispiel sich die Frage stellen, was für konstruktive Wege es gibt, um mit diesem Ärger umzugehen. Dafür braucht es keine Traumdeutungslexika, die sagen, was Silber oder ein Baum oder eine Katze bedeuten. Spannender ist ein Blick auf die eigene Lebenssituation und die Frage, was dieser Traum einem sagen will. Wichtig ist aber auch, deswegen keine wichtigen Entscheidungen zu fällen.
Wie meinen Sie das?
Stellen Sie sich vor, Ihnen wird eine neue Stelle angeboten. Und dann träumen Sie, dass dieser Job ganz furchtbar ist. Das ist keine Entscheidungsgrundlage, um ein Angebot abzulehnen. Das ist völlig verkehrt. So ein Traum spiegelt womöglich einfach die Angst vor einer Veränderung wider: Dann kann es sinnvoll sein, sich dieser Angst zu stellen. Sonst verpasst man vielleicht die Chance auf einen tollen Job.
Manchmal hat man doch visionäre Träume. Letzte Woche träumte ich, dass mich eine Freundin anruft, von der ich lange nichts mehr gehört habe. Und zwei Tage später klingelte es.
Im Nachhinein neigen wir dazu, Zufälle zu etwas Bedeutsamem zusammenzubasteln. Tatsächlich gab es in den 1950er-Jahren auch parapsychologische Untersuchungen zu sogenannten Wahrträumen. Heute ist sich die Forschung einig: Das funktioniert nicht. Man kann nicht aufgrund des Traums eine Vorhersage machen, die eintrifft.
Spielt die Symbolik in einem Traum tatsächlich gar keine Rolle?
Natürlich macht es einen Unterschied, ob man von einem riesigen Baum träumt oder von einem kleinen Strauch. Wichtiger als eine kollektive Symbolik sind der kulturelle und persönliche Hintergrund. Wir haben das in einer Studie untersucht. Hundebesitzer träumen zum Beispiel häufiger von Hunden. Dennoch kann ein Hund im Traum ganz Unterschiedliches bedeuten. Wenn eine Person negative Erfahrungen im Wachleben mit Hunden gemacht hat, sind Hunde im Traum häufiger angstauslösend, etwa wenn man verfolgt wird. Aber man kann beim Träumen auch einfach einen Hund streicheln. Das heisst, eine allgemeine Bedeutung für Hund im Traum macht keinen Sinn.
Braucht man psychologische Unterstützung, um seine Träume zu verstehen?
Über vieles kann man selbst reflektieren. Also wenn es darum geht, seinen Alltag mit dem Erleben des Traumbewusstseins zu bereichern. Wenn es aber in die Richtung schwerer psychologischer Belastungen geht, die man erlebt oder erlebt hat, dann braucht es Profis. Also bei Missbrauch, Traumata oder Depressionen. Oder bei Menschen, die unter häufigen Albträumen leiden, also einmal pro Woche oder mehr.
Stimmt es, dass Kinder und Jugendliche öfter schlecht träumen?
Ja, wobei zwischen häufigen und gelegentlichen Albträumen unterschieden wird. Häufig heisst ein Albtraum pro Woche. Davon sind Erwachsene und Kinder gleichermassen betroffen. Unterschiedlich ist es bei gelegentlichen Albträumen: Davon sind Kinder öfter betroffen.
Was heisst das?
Etwa fünf Prozent haben chronische Albträume. Da spielt sowohl die Veranlagung als auch aktueller Stress eine Rolle. Insbesondere dünnhäutige und kreative Personen haben mehr Albträume, die sich durch das ganze Leben ziehen. Oft finden sie sich damit ab und suchen keine professionelle Hilfe. Das ist schade, denn man kann etwas gegen die Albträume tun.
Mit luziden Träumen? Was ist das überhaupt?
Die Idee davon ist, dass man sich während des Traums bewusst ist, dass man träumt und eingreifen kann. Die meisten Menschen haben aber selten luzide Träume. Darum eignet sich diese Methode nur bei wenigen Personen als Therapie.
Sondern?
Man lässt im Wachzustand den Albtraum nochmals ablaufen, so wie in einem Film. Dann kann man diese beängstigende Situation nochmals in Ruhe betrachten und sich fragen, was man aktiv tun kann, um etwas zu verbessern. Man entwickelt ein neues Szenario und stellt sich das als Übung vor, fünf Minuten pro Tag während zwei Wochen.
Was ist ein typisches Szenario?
Viele von uns kennen Verfolgungsträume. Weglaufen ist eine schlechte Strategie, also stellt sich die Frage, ob man nicht etwas anderes machen kann. Man stellt sich also vor, dass man stehen bleibt und sich umdreht. Hilfreich ist, wenn man sich noch ein paar starke Jungs dazuholt, die hinter einem stehen. Oder was immer einem dabei hilft, das zu konfrontieren, was einem so viel Furcht einflösst. Man kann da sehr kreativ sein. So gestärkt kann man der Angst ins Auge schauen.
Gibt es Träume, die häufig vorkommen?
Ja. Typische Szenarien sind Fallen, Fliegen oder Zahnverlust, oder man kommt zu spät, ist gelähmt, oder eine nahestehende Person stirbt. Hinter all diesen typischen Traumthemen liegen typische Wachsituationen. Beim Verfolgungstraum geht es in der Regel um Vermeidung. Das Grundmuster im Traum ist ja Angsthaben und Weglaufen.
Was ist mit erotischen Träumen?
Sexualität ist ein wichtiger Bestandteil unseres Lebens, natürlich spielt das im Traum eine Rolle, das ist ganz normal. Interessant ist, dass sich in erotischen Träumen nicht die Häufigkeit der sexuellen Aktivität im Wachleben spiegelt, sondern die der Fantasie.
Stimmt es, dass sich Frauen häufiger an Träume erinnern?
Frauen können sich grundsätzlich besser an ihre Träume erinnern als Männer. Diesen Geschlechterunterschied gibt es vor allem bei jungen Erwachsenen. Das hat damit zu tun, dass Mädchen häufiger über ihre Träume reden als Jungs. Sie interessieren sich für ihre Gefühlswelt und Traumdeutung und informieren sich darüber. Der wichtigste Faktor für die Traumerinnerung ist das Interesse.
Manchmal hat man im Traum Sex mit einer Person, die man im echten Leben gar nicht mag.
Womöglich geht es dabei gar nicht um erotisches Interesse. Etwa wenn man vom Chef oder von einem Promi träumt. Es kann auch sein, dass man angezogen ist von den Eigenschaften dieser Person, vielleicht möchte man auch schlagfertig oder erfolgreich sein. Die sexuelle Verbindung im Traum zeigt, dass man im Wachleben mehr Anteil an den Eigenschaften dieser Person haben möchte – nicht, dass man mit ihr ins Bett will. Ich finde es spannend, erotische Träume aus dieser Perspektive zu betrachten, also anti-freudianisch, die nicht-sexuelle Deutung sexueller Träume.
An welchen Ihrer Träume erinnern Sie sich am liebsten?
Da gibt es viele. Besonders intensiv war ein sogenannter Flugtraum. Ich schwebte in einer eingerollten Position über dem tosenden Meer. Es war ein sehr eindrucksvolles Erlebnis, weil ich mich inmitten dieser Naturgewalt sicher und geborgen fühlte und diese Kraft zugleich so deutlich erleben und spüren konnte.
Empfehlen Sie, sich mehr mit seinen Träumen zu beschäftigen?
Es gibt viele, die Träume als inspirierende Bereicherung im Leben empfinden. Meist sind das jene, die sich damit auseinandersetzen. Jene, die unter unangenehmen Träumen leiden, zögern leider oft lange, bis sie sich Rat suchen.