KI verzerrt Schweizer Realität
Statistik-Chef des Bundes warnt vor ChatGPT

Das Bundesamt für Statistik kämpft um Sichtbarkeit im KI-Zeitalter. Chef Georges-Simon Ulrich warnt im Blick-Interview vor Falschinformationen von ChatGPT und plant, mit KI-Unternehmen zu kooperieren.
Publiziert: 27.10.2025 um 18:57 Uhr
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Aktualisiert: 27.10.2025 um 19:44 Uhr
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Seit 175 Jahren sammelt das Bundesamt für Statistik (BFS) Daten über die Schweiz und ihre Bevölkerung und veröffentlicht sie in 21 Themenbereichen.
Foto: Keystone

Darum gehts

  • BFS-Chef: KI-Systeme finden Schweizer Statistiken oft nicht
  • Kooperation mit Tech-Unternehmen zur Verbesserung der Datensichtbarkeit angestrebt
  • BFS muss bis 2028 13 Millionen Franken sparen und 40 Vollzeitstellen abbauen
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Pascal ScheiberReporter Gesellschaft

Lehrermangel, Sprachkenntnisse oder Alkoholkonsum. Zu- oder Abnahme. Vor 175 Jahren führte der Bund die Volkszählung ein. Seither sammelt, verwaltet und publiziert das Bundesamt für Statistik (BFS) Daten und Statistiken zum Zustand der Schweizer Bevölkerung. Seit 12 Jahren führt Georges-Simon Ulrich (57) das Amt.

Blick: Niemand weiss so viel über die Schweiz wie Sie. Was überraschte Sie zuletzt als oberster Statistiker über unsere Gesellschaft?
Georges-Simon Ulrich: Der Bund publiziert seit 175 Jahren täglich verschiedene Statistiken. Unsere Zahlen legen die gesellschaftliche Realität offen. Neulich sahen wir, dass die Art, wie wir zusammenleben, unsere Familienmodelle, viel stärker von den Lohnunterschieden beeinflusst werden, als man denkt. In dieser Welt von Algorithmen ist die Statistik ein Spiegel der Gesellschaft und zeigt, wie es wirklich ist. Häufig sind unsere Zahlen besser als die Wahrnehmung in der Öffentlichkeit, aber nicht überall.

Was meinen Sie damit?
Wenn mein Sohn etwas wissen möchte, fragt er ChatGPT. Wenn ich das Resultat sehe und merke, dass das Bundesamt für Statistik was anderes sagt, irritiert das. Nicht nur bei meinem Sohn. Viele breit genutzte KI-Systeme arbeiten mit Text-Quellen. Die Daten vom BFS sind Zahlen und keine Texte. Sie finden im besten Fall eine Pressemitteilung. Das heisst: ChatGPT und Co. finden unsere Statistiken nicht – auch von anderen Statistikämtern nicht. Und: Sie können nicht unterscheiden, wann Daten vertrauenswürdig sind. In der Realität können Sie in 30 Sekunden drei Mal die Maschine dasselbe fragen und bekommen drei verschiedene Antworten.

Das muss Ihnen Sorgen machen.
Mir macht das Sorgen – auf unterschiedlichen Ebenen. Ich will nicht sagen, dass KI-Modelle schlecht sind. Sie können sehr vieles sehr gut und uns im Alltag unterstützen. Aber: Ihre Algorithmen sind eine Art Realitätskonstrukteure. Sie kreieren eine Realität auf der Basis von Informationen irgendwo. Das heisst nicht, dass alles falsch ist.

Sondern?
Es fordert von uns Nutzenden ein Verständnis davon, von wo die gelieferten Daten der KI kommen und wie sie zu lesen sind. Nur weil ChatGPT eine Aussage über die Schweiz liefert, heisst das nicht, dass die Informationen aktuell sind und per se stimmen. Was ich am meisten fürchte, ist, dass Informationen plötzlich relevanter werden, weil der Zugang im Netz höher ist als die qualitativ besseren Daten von uns.

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Sie müssen Ihre Daten sichtbarer machen. Für die Maschine, aber auch für die Nutzenden. Dann wäre die Maschine weniger ein Realitätskonstrukteur, wie Sie sagen.
Daran arbeiten wir an zwei Fronten. Einerseits wird unsere Website erneuert, damit unsere Informationen für die Maschinen auffindbarer werden. Andererseits sollen über unsere neue Metadatenplattform die Statistiken auch für die Maschinen leserlich sein. Denn: Wir wollen von ChatGPT gefunden werden, weil unsere Daten nachvollziehbar und transparent sind. Das ist aber nicht einfach.

Wieso?
Seit 175 Jahren erfassen wir unzählige wichtige Daten über die Schweiz aus den verschiedensten Lebensbereichen. Der Bundesrat beauftragte uns als nationaler Datenverwalter. Wir müssen dafür sorgen, dass im Rechtsrahmen alle Daten der Sprache aller Nutzenden entsprechen; die von der Politik, Verwaltung, der Wissenschaft, aber auch von Maschinen. Das ist komplex. Denn: Die öffentlich zugänglichen Daten müssen somit mehrfach nutzbar und leserlich sein.

Kooperieren Sie mit Tech-Unternehmen?
Unter der Bedingung, dass die Datenhoheit beim Bund bleibt. Microsoft, OpenAI und die anderen Unternehmen sind wichtig, weil sie die technologischen Treiber sind und uns sagen können, was sie brauchen. Wir als Bundesamt für Statistik müssen verhindern, dass unsere Demokratie-relevanten Daten nicht oder falsch verstanden werden und dann mehr oder weniger die Wahrnehmung der Bevölkerung beeinflussen. Deshalb sind Kooperationen unumgänglich.

Im Alleingang als Statistik-Büro in Neuenburg?
Nein, dafür haben wir mit anderen Uno-Staaten das neue «Trusted Data Observatory» mit Sitz in Genf initiiert. Das Ziel: Eine internationale Plattform soll die qualitativen Statistiken und Daten aus den einzelnen Ländern sowie internationalen Organisationen sammeln und zur Verfügung stellen. Nur so werden unsere Informationen auch für die Tech-Player interessant.

Gleichzeitig hat der Bundesrat Ihnen ein Sparpaket auferlegt: Sie müssen bis 2028 13 Millionen Franken sparen, 40 Vollzeitstellen abbauen und Ihr Statistikangebot kürzen.
Das ist eine schmerzhafte Gratwanderung. Wir werden gewisse Statistiken und Überarbeitungen langsamer oder gar nicht mehr umsetzen können. Wir haben in den letzten Jahren von Parlament und Bundesrat neue Aufgaben bekommen, aber dafür ungenügend Geld. Alle Aufgaben bestehen auf rechtlichen Grundlagen. Wir müssen jetzt etwa 40 Stellen abbauen. Das schmerzt. Wir müssen Effizienzsteigerungen suchen und umpriorisieren. Es geht darum, neue Aufgaben und die bestehenden ins Gleichgewicht zu bringen. Wir müssen sehr vorsichtig damit umgehen, damit wir das Wissen nicht einfach abschneiden und eine Statistik darunter leidet.

Bei den Wahlen 2023 leistete sich das BfS einen «Bock» und zählte die Resultate der Wähleranteile falsch aus. Sie versprachen: Eine Lösung sei bis 2027 auf dem Tisch. Sind Sie auf Kurs?
Ja, das sind wir. Das Ziel ist, dass die Kantone uns die Daten alle im selben Standard liefern, was bisher nicht der Fall war. In einzelnen Kantonen wird bereits getestet – erfolgreich.

In Zahlen stehen die Schweiz und ihre Menschen gut da, sagten Sie zu Beginn. Was bringen Ihre Statistiken der Schweiz?
Das Schlimmste wäre, wenn die Menschen gleichgültig wären. Das ist nicht der Fall. Wir involvieren, informieren und interessieren uns. Es ist normal, dass meine Wahrnehmung eine andere ist als in der Statistik. Auf dem Durchschnitt ist niemand, denn entweder sind Sie rechts oder links, oberhalb oder unterhalb davon. Klar: Wir leben in einer polarisierten Welt. Aber: Unser Streben nach Kompromissen hilft uns, die Stabilität und eine gesunde Diskussionskultur zu halten. Die Statistiken dienen als Grundlage dazu.

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