Darum gehts
«Als mein Sohn mir damals sagte, dass er Vater wird, bin ich in Tränen ausgebrochen. Es war so emotional», erinnert sich Carla M.* (58). Die abenteuerlustige Kleine sei eine Bereicherung für die ganze grosse Familie gewesen. Den Kontakt zur Enkeltochter verlor sie schleichend, und dann war sie plötzlich weg, «wie im Nebel verschwunden».
Ben R.* (75) hingegen wurde von einem Tag auf den anderen aus dem Leben seiner beiden Enkel hinausgedrängt. «Bis zu jenem Tag nahm ich eine elternähnliche Rolle ein», sagt er.
Ihre Erfahrungen sind unterschiedlich, doch den Schmerz, nicht am Leben der Grosskinder teilhaben zu dürfen, teilen sie.
Grosseltern ohne Kontakt zu ihren Enkelkindern – das gibt es gar nicht so selten. Davon zeugt die Grosselterninitiative: ein Verein, der sich seit 2008 in der Schweiz dafür einsetzt, dass Grosseltern auch nach einer Trennung der Eltern Kontakt zu den Enkelkindern pflegen können. Pro Jahr gibt es in der Schweiz etwa 15'000 Scheidungen, hinzu kommen die Trennungen unverheirateter Paare. Bei konfliktreichen Fällen bricht der Kontakt zu den Grosseltern väterlicherseits häufig ab, wenn die Mutter dem Vater das Besuchsrecht verweigert. Und: Wenn die Beziehung zwischen Eltern und erwachsenem Kind zerrüttet ist, kann dies das Kennenlernen des Grosskinds von Beginn weg verunmöglichen.
Als Grossvater eng eingebunden
Grossvater Ben R. kämpft. Er kämpft um die Beziehung, um den Kontakt zu den beiden Enkeln. Die Buben mit eineinhalb Jahren Altersabstand und der geschiedene Grossvater hatten eine enge Beziehung. Ben R. schildert, wie er auf Wunsch der Eltern von Beginn weg Nachtschichten übernahm, wie er, anfangs mehr, dann ein- bis zweimal die Woche über eine Stunde Weg auf sich nahm, um die Betreuung zu übernehmen, wie er den zweitgeborenen, stundenlang weinenden Enkel herumtrug, wie er wickelte, spielte, vorsang. Er nahm die Buben mit auf die Hügel und in die Wälder, reiste mit der Familie in die Ferien, machte Ausflüge, beschreibt glückliche Stunden an der Maggia im Tessin.
Bis es zum Knall kam, es war der 1. April 2019. Ben R. hatte in der Wohnung seines Sohns übernachtet, die Betreuung der Buben morgens früh übernommen, als der Sohn zur Arbeit ging. Die beiden Kinder im Vorschulalter waren mit ihm im Bad, wo er sich gerade – wie gewohnt mit nacktem Oberkörper – rasieren wollte. «Die Buben hatten immer den Plausch, bekamen von mir etwas Schaum, durften das Wasser einlassen», sagt er dazu. Plötzlich sei die Schwiegertochter hineingestürmt, habe die Buben schreiend herausgezerrt, mit dem Finger gegen ihn gewedelt, «Nein!» gebrüllt.
Aus dem Kinderleben ausradiert
Es war das letzte Mal, dass R. in der Wohnung war. Eine Mediation, zu der sein Sohn bereit gewesen sei, habe die Schwiegertochter verweigert, ebenso wie den Kontakt zu den Kindern per Videoanruf. Warnzeichen vor dem Bruch gab es laut Ben R. kaum: Der Enkel habe vor der Eskalation im Frühling 2019 rapportiert, die Mutter bezeichne den Grossvater als «Grüsel». Später soll sie den Kindern gemäss R. gesagt haben, er sei tot.
Rat und Austauschmöglichkeiten finden ausgegrenzte Grosseltern beispielsweise bei der Grosselterninitiative: https://grosselterninitiative.ch/
Das Aufsuchen einer Familienberatungsstelle oder Familienmediation kann den Weg zu einer gemeinsamen Lösung ebnen.
Bei Streitigkeiten kann man eine Familienrechtsanwältin oder die Kesb (Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde) am Wohnort des Kindes um Rat bitten.
Auch das Beratungszentrum vom «Beobachter» steht mit Rat bereit.
Rat und Austauschmöglichkeiten finden ausgegrenzte Grosseltern beispielsweise bei der Grosselterninitiative: https://grosselterninitiative.ch/
Das Aufsuchen einer Familienberatungsstelle oder Familienmediation kann den Weg zu einer gemeinsamen Lösung ebnen.
Bei Streitigkeiten kann man eine Familienrechtsanwältin oder die Kesb (Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde) am Wohnort des Kindes um Rat bitten.
Auch das Beratungszentrum vom «Beobachter» steht mit Rat bereit.
Seither kämpft Ben R. Er berief sich auf Artikel 274a des Zivilgesetzbuchs, in dem festgehalten ist, dass «der Anspruch auf persönlichen Verkehr auch anderen Personen, insbesondere Verwandten», eingeräumt werden kann, «sofern dies dem Wohle des Kindes dient und ausserordentliche Umstände vorliegen». Mit seinen Beschwerden fand er bislang weder vor Bundesgericht noch vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Gehör. Dabei hat sich der EGMR in der Vergangenheit auch schon mit verwandten Fällen beschäftigt; im Jahr 2022 sprach das Gericht einem Grosselternpaar aus Bulgarien eine Entschädigung für erlittenen immateriellen Schaden nach der Entfremdung der Enkelin zu.
Ruhen lassen wird Ben R. die Sache nicht. Er kämpft nun für die Anerkennung der Entfremdung als psychische Gewalt, wie dies etwa in Dänemark seit 2025 der Fall ist. R. plädiert dafür, dass Entfremdung in der Schweiz unter Artikel 219 des Strafgesetzbuches (Gefährdung der seelischen Entwicklung) strafbar gemacht wird. Im Februar 2025 reichte er eine Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft am Wohnort der Enkel ein; diese befindet sich laut Medienstelle der Staatsanwaltschaft «in Prüfung».
Vorwürfe und Anschuldigungen
Die Strafanzeige hat uns Ben R. auf Anfrage in anonymisierter Form zugestellt; sein Anwalt dokumentiert darin auf über 30 Seiten die Ausgrenzung des Grossvaters. Festgehalten ist auch, dass in den Protokollen der Behörden unwahre Aussagen der Schwiegertochter enthalten seien. Zum Beispiel hatte sie laut einer Aktennotiz gesagt, sie könne nicht nachvollziehen, wieso er die Kinder nackt gefilmt habe. Damit, schreibt R.s Anwalt, warf sie «ihrem Schwiegervater Pädophilie und Kinderpornografie» vor. Ben R. sagt, er habe die Kinder nie nackt gefilmt. Im «missbräuchlichen Missbrauchsvorwurf» sieht er ein Zeichen einer «sehr schweren Entfremdungsstrategie». Die Kesb habe die protokollierten Vorwürfe nie überprüft.
Die Schwiegertochter hat Kenntnis von den Vorwürfen, die Ben R. erhebt. Um eine Stellungnahme gebeten, schreibt sie, er habe «sich selbst in die aktuelle Situation gebracht». Und: «Der vorliegende Fall inklusive der vorgebrachten Anschuldigungen wurde bereits bundesgerichtlich zu unseren Gunsten geklärt.»
Er spürt die Lücke täglich
Tagsüber liest Ben R. Fachliteratur zur Entfremdung, studiert Gerichtsurteile und die Rechtsprechung verschiedener Länder, ist in Vereinen für entfremdete Väter und Grosseltern aktiv. Doch morgens und abends kommen die Emotionen. Wenn er sich rasiert. Wenn es Zeit wäre für das Gute-Nacht-Lied, das er geschrieben und schon seinem Sohn vorgesungen hat.
«Mein Sohn darf auch keinen Kontakt mehr zu mir haben», sagt er. Dies tue emotional auch weh, doch er wisse, dass sich sein Sohn andere Beschäftigungen suchen, sich ein anderes Umfeld aufbauen könne. Für die Kinder sei dies ungleich schwerer: «Ich habe das Gefühl, dass meine Enkel in Geiselhaft meiner Schwiegertochter sind. Ich bin ein Grossvater von Geiseln.»
Ein Kind unter Druck
Die Geschichte von Grossmutter Carla M. ist vordergründig weniger dramatisch. Es gab kein Geschrei, keine Anschuldigungen. Das Mädchen verschwand einfach aus ihrem Leben. Fast von einem Wochenende aufs andere.
Die ersten Lebensjahre ihrer Enkelin erlebte Carla M. als harmonisch. Zwar musste nach der Trennung der Eltern die Kesb das Besuchsrecht für den Vater mit Druck durchsetzen. Doch dann war das Mädchen wieder regelmässig bei der Grossmutter zu Besuch, spielte mit dem Vater und dessen jüngeren Halbgeschwistern – ihren kleinen Tanten – und dem Hund im grossen Garten.
Die Wende kam schleichend. Die Mutter habe das Kind mehr und mehr emotional unter Druck gesetzt, berichtet Carla M. So habe sie sich traurig gezeigt, wenn der Vater seine Tochter abholen wollte, habe mehrmals am Tag angerufen, wenn sie beim Vater war. Irgendwann, als der Vater sein Kind abholen wollte, weinte es. Bald konnte er das Mädchen nur noch in der Wohnung der Mutter besuchen.
Ab diesem Zeitpunkt war die restliche Verwandtschaft vom damals sechsjährigen Mädchen abgeschnitten. «Als ich meine Enkelin einmal bei ihr zu Hause besuchte, spürte ich klar, dass ich dort nicht erwünscht bin», erinnert sich die Grossmutter. Seit acht Jahren hat sie sie nun nicht mehr gesehen.
Carla M. erkennt im Verhalten der Ex-Partnerin ihres Sohns Muster, die M. selbst als Scheidungskind erlebt hat: «Der emotionale Druck ist subtil, aber dauerhaft. Das Ziel der Mutter ist es, das Kind an sich zu binden.» Auch ihre eigene Mutter habe sich immer ausgesprochen traurig gezeigt, wenn Carla den Vater besuchte.
Der Loyalitätskonflikt zwischen Mutter und Vater sei für ein Kind schlimm. «Meine Enkelin muss schon genug durchmachen, deshalb lassen wir sie in Ruhe. Zu ihrem Schutz», sagt M. Das Verhalten der Mutter verurteilt sie «aufs Schärfste», und sie ist der Meinung, dass die Kesb in vielen Fällen keine wirklich gute Arbeit macht: «Die Eltern sollten verpflichtet werden, gemeinsam einen Weg zu finden. Denn es geht um das Recht der Kinder auf Kontakt zu beiden Eltern. Und die Pflicht der Eltern, den Kontakt zu beiden Elternteilen zu ermöglichen. Nicht zu verhindern.»
Hoffnung auf ein Wiedersehen
In Gedanken ist sie häufig bei der Enkelin, die in einem Dorf unweit von ihr wohnt. Dass man sich einfach auf der Strasse mal begegnet, das ist nicht undenkbar. Oder dass das Kind irgendwann bereit sein wird, ihren Vater zu suchen. «Sie hatten so eine herzliche und liebevolle Beziehung.»
Ihr Sohn machte es schliesslich wie Carla M. und zog sich zurück, als die Situation offensichtlich für das Kind zu belastend wurde. Seine Tochter von der Polizei abholen lassen, um sein Besuchsrecht durchzusetzen, das wollte er nicht. Doch er schreibt ihr Briefe und hofft, dass sie diese bekommt. Er hält ein Zimmer für sein Kind bereit, das er seit drei Jahren nicht gesehen hat.
Carla M. sagt: «Primär sind die Kinder Opfer in solchen Geschichten. Doch die Biografien unserer ganzen Familie sind durch den Kontaktabbruch verändert worden. Auch wir empfinden eine grosse Lücke.» Wir: sie selbst als Grossmutter, der Vater, die drei Tanten des Mädchens. Auf die Enkelin warten Geschenke, die sie ihr nie übergeben konnten.
Die Grossmutter ist überzeugt: «Sobald meine Enkelin und ich uns wiedersehen, wird die Vergangenheit keine Rolle mehr spielen. Das wird der Tag eins unserer Beziehung sein. Ich werde ihr einfach sagen, wie sehr ich mich freue, sie wiederzusehen.»
Ben R. rechnet ebenfalls damit, dass die Enkel irgendwann auf ihn stossen werden – etwa dann, wenn sie ihren Nachnamen googeln und seine Website entdecken, auf der er vergangenes Schaffen und aktuelle Tätigkeiten dokumentiert. Dort hat er in seinem Lebenslauf den Namen seines Sohns mit Geburtsdatum aufgelistet, wie auch die Namen und Geburtsdaten der beiden Enkel. Sie sollen zweifelsfrei erkennen, dass er zu ihnen gehört.
* Namen geändert