Darum gehts
Die EU lobt – und hebt warnend den Finger. Im am Dienstag veröffentlichten Fortschrittsbericht attestiert Brüssel der Ukraine «beispiellose Reformen trotz Krieg», gleichzeitig aber auch «wachsende Risiken demokratischer Erosion». Es ist ein Satz, der hängen bleibt: Ausgerechnet ein Land, das für Freiheit und Selbstbestimmung kämpft, gerät in Verdacht, innenpolitisch Demokratie auszuhöhlen. Und damit rückt eine Frage ins Zentrum, die lange überdeckt war vom Kriegslärm: Wo steht die Ukraine wirklich? Ist Präsident Wolodimir Selenski (47) noch der Garant demokratischer Werte oder bestätigen sich die Warnungen seines Rivalen Petro Poroschenko (60) vor schleichender Machtkonzentration?
Dieser warnt nämlich im Interview mit «Politico» offen: «Da wir gegen russische Autokratie kämpfen, können wir es uns nicht leisten, selbst in autokratische Praktiken abzurutschen.» Und plötzlich wirkt der Konflikt in Kiew nicht mehr nur wie ein Streit zwischen zwei politischen Gegnern, sondern wie ein Kampf um die demokratische Seele eines Landes im Ausnahmezustand. Wird Selenski zum Autokrat?
Wie steht es um die ukrainische Demokratie?
Selenskis Regierung agiert unter Kriegsrecht. Das verändert alles. Politischer Wettbewerb ist offiziell ausgesetzt, landesweite Wahlen dürfen nicht stattfinden, weil Millionen Ukrainer im Ausland leben, Soldaten an der Front sind und Wahlkampf als unzumutbar gilt. Gleichzeitig entscheidet ein kleiner Sicherheitsrat über zentrale Fragen, oft ohne parlamentarische Debatte. All das ist unter Kriegsbedingungen nachvollziehbar, aber nicht grenzenlos legitim. Die EU hält im Fortschrittsbericht fest, Kriegsrecht dürfe «nicht als Freipass für Eingriffe in Gewaltenteilung und Medienfreiheit» verstanden werden. Mit anderen Worten: Notstand ja – aber nicht ohne Kontrolle.
Die Ukraine ist keine Autokratie. Der wichtigste Beweis dafür ist, dass Gegenkräfte wirken. Als die Regierung im Sommer versuchte, den Anti-Korruptionsbehörden Kompetenzen zu entziehen und loyale Richter einzusetzen, gingen Menschen auf die Strasse. NGOs wie das Anti-Corruption Action Center, investigative Medien wie «Ukrainska Pravda» und internationale Partner übten massiven Druck aus. Die Regierung musste zurückrudern. Auch Gerichte stoppen Entscheidungen des Präsidentenbüros. Gerade dieser Widerstand – und seine Wirkung – unterscheidet die Ukraine fundamental von autokratischen Regierungen.
Dennoch ist spürbar, wie sich Macht immer stärker im Präsidialamt konzentriert. Entscheidungsprozesse laufen über einen kleinen Kreis um Selenski und seinen mächtigen Stabschef Andrij Jermak (53). Gouverneure, Medienchefs, Richter: Viele Schlüsselpositionen werden mit Loyalisten besetzt. Kritiker wie Ex-Präsident Poroschenko stehen unter Ermittlungen, dürfen nicht reisen und sprechen von «gezielter Ausschaltung politischer Gegner». Selenski weist das zurück und nennt es «Verantwortung im Krieg»: Man könne sich «Chaos, Ego und persönliche Machtspiele» nicht leisten. Beide Perspektiven beschreiben dieselbe Entwicklung: eine Regierung, die Kontrolle als Überlebensstrategie sieht, und eine Opposition, die darin den Beginn eines autoritären Reflexes erkennt.
Stresstest für ein Land im Dauerstress
Die Ukraine steht nicht am Rand einer Diktatur. Aber sie steht an einem Punkt, an dem der Ausnahmezustand zur neuen Normalität zu werden droht. Die Demokratie lebt – aber sie lebt unter Bewährung.
Am Ende hängt alles an zwei Fragen: Werden nach dem Krieg Wahlen, Gewaltenteilung, Medienfreiheit und politische Konkurrenz wieder vollständig hergestellt? Und gelingt es Selenski, den Krieg zu führen, ohne dabei seine eigene Macht gegen die Demokratie zu verteidigen? Es bleibt abzuwarten. Brüssel hat dafür eine messbare Bedingung formuliert: Nur ein Staat, der «nicht nur territoriale, sondern institutionelle Souveränität» verteidigt, kann Teil der EU werden.
Poroschenkos Warnungen und der EU-Bericht sind ein Stress-Test für ein Land, das zugleich um Freiheit, Überleben und Glaubwürdigkeit kämpft. Selenski ist bisher beides: Symbol des Widerstands und Architekt einer Macht, die sich zunehmend um ihn selbst organisiert. Ob daraus Stabilität oder Abhängigkeit entsteht, entscheidet nicht das Schlachtfeld. Es entscheidet sich in den Institutionen, die noch stehen, und in denen, die nach dem Krieg wieder aufgebaut werden müssen.